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Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen

Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen

Titel: Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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bitterscharfer Geschmack auf der Zunge,
bleischwer. Erst nach mehrmaligem Durchlesen war der Inhalt wirklich in sein
Bewusstsein gestiegen. Im Raum hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
Er hatte die Schublade mit einem Ruck zugestoßen und einfach weitergearbeitet,
als wäre nichts gewesen.
    Kurz
vor 19.00 Uhr hatte er Feierabend gemacht. Seitdem brennen Herz, Magen und
Leber. Ziellos schlendert er durch die Straßen von Kiel, vorwärts, immer dem
Bürgersteig hinterher. Links, links, rechts, den Schritten auf der Spur, zieht
er ein Geflecht aus Linien durch seinen Kopf, umwickelt seine Gedanken zu einem
festen Kokon. Auf den langen Reihen der Mietsblöcke hockt die Niedertracht. Die
grauen Mauern bedrängen ihn, reiben sich aufdringlich an seinem Körper. Er
weiß, es gibt nur ein Mittel, nicht von dieser Steinhölle erdrückt zu werden.
Sein Verstand muss Kontakt zum Organ aufnehmen, es mit Poesie besänftigen. Er
rezitiert innerlich Worte des moslemischen Dichters Dschelaleddin Rumi: »Die
Hölle ist das Haus, das ohne Fenster ist – Fenster bauen o Gottesdiener, ist
die Grundlage der Religion!«
     
    In der ersten Zeit des Studiums war er noch religiös gewesen und manchmal
in die Moschee gegangen. Doch unmerklich wurde er sozusagen von dieser
westlichen Lebensweise überwältigt. Er wünschte sich, einer von ihnen zu
werden, lebte aber weiterhin zwischen Baum und Borke, blieb ein Entwurzelter.
    Gestern
Abend hatte er in Adornos Minima Moralia gelesen und einen merkwürdigen
Satz gefunden, der ihn auf irgendeine Weise besonders angesprochen hatte. Er
versucht, sich die Aussage erneut ins Gedächtnis zu rufen.
    »Das
Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem
Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, dass sie
schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat.«
    Bin
ich schon zum Verräter an meiner Kultur geworden, denkt er, ohne zu ahnen, wie
nah dieser Satz bald mit seinem Schicksal verstrickt sein wird.
    Er
schiebt sich die Chechia (Wollmütze) aus der Stirn. Sie ist das letzte
Zugeständnis an seine Heimat Tunesien. Schlagartig wird ihm klar, dass er in
Deutschland immer ein Fremder bleiben wird. Eine tiefe Sehnsucht überfällt ihn.
Unwillkürlich spürt er die ewige Sonne von Djerba auf seiner Haut, denkt an
seine Heimatstadt Houmt-Souk und an die wolkenweiß getünchten Mauern des
vornehmen Menzel (Gehöft) seiner Eltern. Von seinem Zimmerfenster aus
konnte er direkt auf den Hafen blicken, auf die vielen bunten Holzboote der
Fischer. Er sieht sich als kleiner Junge bei den Zimmerleuten stehen, die im
kargen Schatten der Olivenbäume in ihren leichten Jebbas (Gewänder) nach
einem gezeichneten Plan Holzplanken zurechtsägen. Schon damals träumte er
davon, eines Tages auch solche Pläne herzustellen.
    Und
was wurde daraus, grübelt er. Jetzt bist du Ingenieur, hast aber bis heute
keinen noch so klitzekleinen Plan für ein Holzboot gezeichnet. Man hat dich
geködert, einer von ihnen zu werden. Du warst dankbar, weil man dich U-Boote
bauen ließ, die modernsten der Welt, und du warst stolz, weil du sogar in den topsecret Bereich durftest. Eifrig konstruiertest du mit den Kollegen an diesen
Schalldämmungsmodulen, die elastisch in die Bootsstruktur eingelagert werden
konnten. Ehrgeizig hattest du dich an der Entwicklung der neuartigen
sechsblättrigen Propeller beteiligt, die nahezu kein Schraubengeräusch mehr
verursachen. Du warst fest überzeugt gewesen, es zu etwas gebracht zu haben,
bis urplötzlich alles anders gewesen war. Bei der Arbeit am geheimen
Brennstoffzellenantrieb wurdest du prompt ausgeschlossen und als
Sicherheitsrisiko eingestuft. Typisch.
    Natürlich
brannte jeder Konstrukteur darauf, bei dieser wirklich revolutionären Technik
mit dabei zu sein. Mit dem Ergebnis der Forschung werden konventionelle U-Boote
wochenlang unter Wasser bleiben können, wie Atom-U-Boote, wenn alles so
verläuft wie geplant. Sein Rausschmiss aus dem Projekt war eine persönliche
Kränkung gewesen, die ihn sehr wütend gemacht hatte. Danach war das Organ das
erste Mal spürbar gewesen.
     
    »Na, Süßer! Wie wär’s mit uns beiden?«
    Er
schreckt aus seinen Gedanken und blickt in ein pausbackiges Gesicht, das ihn
grell geschminkt anlächelt. Die füllige Frau lehnt an der Hauswand und wippt
aufreizend mit dem rechten Bein. Sie trägt schwarze Leggings und knallrote
Schaftstiefel. Ihren Körper hat sie in einen
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