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Feuer (German Edition)

Feuer (German Edition)

Titel: Feuer (German Edition)
Autoren: Gabriele d'Annunzio
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so sprach: sie hatte in Wirklichkeit ihre Augen auf jenem Stückchen Leinwand gelassen, das die Kunst durch ein bißchen Farbe zum Mittelpunkt eines unendlich erhabenen Mysteriums gemacht hat. Und in Wirklichkeit führte ich eine Blinde, von tiefer Ehrfurcht ergriffen für diese bevorzugte Menschenseele, über die die Macht der Farbe eine solche Gewalt hatte, daß sie für einige Zeit jede Spur des alltäglichen Lebens verwischte und jede andere Mitteilung verbot. Wie wollen Sie das nennen? Den Kelch bis zum Rande füllen, dünkt mich. Das ist es zum Beispiel, was ich heute abend tun wollte, wenn ich nicht entmutigt wäre.«
    Neues Rufen, stärker und anhaltender, erhob sich zwischen den beiden schützenden Granitsäulen, als die Prunkgondel bei der belebten Piazetta anlegte. Die schwarze und dichte Menge wogte dazwischen hin und her, und die leeren Nischen der herzoglichen Loggien füllte ein wirres Geräusch, wie das Brausen, das die Höhlen der Seemuscheln zu beleben scheint. Dann plötzlich stieg erneutes Rufen in die leuchtend klare Luft auf, brach sich oben an dem schlanken Marmorwald, erhob sich über die Köpfe der hohen Statuen, erreichte die Zinnen und die Kreuze und verlor sich in der abenddämmernden Ferne. Unveränderlich, erhaben über die Bewegung unter ihr, verblieb in der neuen Pause die vielfältige Harmonie der heiligen und profanen Gebäude. Und darüber zogen sich, wie eine leichte, bewegliche Melodie, die jonischen Modulationen der Bibliotheca hin, und erhob sich die Spitze des kahlen Turmes wie ein mystischer Schrei. Und diese stumme Musik der unbeweglichen Linien war so mächtig, daß sie die fast sichtbare Vision eines schöneren und reicheren Lebens erzeugte, die erhabener war als das Schauspiel der unruhigen Menge. Die Menge fühlte die Göttlichkeit der Stunde; und in dem jauchzenden Zuruf, den sie dieser neuen Form von Königshoheit zollte, die an dem antiken Ufer landete, dieser schönen blonden Konigin, die von einem unversiegbaren Lächeln verklärt war, strömte sie vielleicht das dunkle Sehnen aus, die engen Schranken des Alltagslebens zu durchbrechen und die Gaben der ewigen Poesie zu empfangen, die über diesen Steinen und diesen Wassern verstreut sind. Die habgierige und starke Seele der Väter, die den heimkehrenden Triumphatoren auf dem Meere zujubelten, erwachte unklar in diesen durch die öde Langeweile und die Drangsal der langen Tage niedergedrückten Menschen; es war darin etwas von der Luft, die noch von dem Flattern der mächtigen Kriegsbanner bewegt war, wenn diese gleich den Fittichen der Siegesgöttin nach beendetem Flug eingezogen wurden, oder von dem Knirschen der Helden, das unversöhnlich blieb, auch wenn das Geschwader in die Flucht geschlagen war.
    »Kennen Sie Perdita« – fragte Stelio plötzlich – »kennen Sie irgendeinen anderen Ort der Welt, der in gewissen Stunden imstande ist, die menschliche Lebenskraft anzuregen und alle Wünsche bis zum Fieber zu steigern, wie Venedig? Kennen Sie eine gewaltigere Verführerin?«
    Die Frau, die er Perdita nannte, hielt ihr Haupt geneigt, wie um sich zu sammeln, sie antwortete nicht; aber in allen Nerven fühlte sie das unbeschreibliche Beben, das die Stimme des jungen Freundes ihr verursachte, wenn sie plötzlich zur Offenbarerin einer leidenschaftlichen und ungestümen Seele wurde, zu der sie eine grenzenlose Liebe und eine grenzenlose Furcht zog.
    »Frieden! Vergessen! Finden Sie diese Dinge dort unten im Grunde Ihres einsamen Kanals, wenn Sie heimkehren, erschöpft und fiebernd von der Luft des Parketts, die eine Bewegung von Ihnen zu frenetischem Jubel hinreißt? Ich für meinen Teil fühle, wenn ich auf diesem toten Wasser bin, mein Leben sich vervielfältigen mit schwindelnder Schnelle; und zu manchen Stunden scheint es mir, als ob meine Gedanken sich entzündeten, wie beim Ausbruch des Deliriums.«
    »Die Kraft und die Flamme sind in Ihnen, Stelio« – sagte die Frau fast demütig, ohne die Augen zu erheben.

    Er schwieg absichtlich, denn in seinem Geiste erstanden Bilder und leidenschaftliche Melodien, wie durch plötzliche Befruchtung, und er freute sich an dem Reichtum, der ihm unerwartet zuströmte.
    Noch dauerte die Stunde des Vesperläutens, die er in einem seiner Bücher die Tizianische Stunde genannt hatte, weil dann alle Dinge gleich den nackten Geschöpfen dieses Künstlers in ihrem eigenen reichen Licht zu strahlen und fast den Himmel zu erleuchten schienen, statt ihr Licht von ihm zu empfangen. Aus
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