Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
Vom Netzwerk:
zum Ponte Sant’ Angelo ist es nicht weit. Unter den Engelsstatuen stehen verliebte Paare. Tessa finde ich auch hier nicht.
    Die Engelsbrücke zur Engelsburg, goldgelb leuchtet sie in der Dunkelheit. Für mich ist es einer der schönsten Anblicke in Rom. Wer weiß, ob Tessa meine Meinung teilen würde. Was ist schön an einem Mausoleum, einer Festung?, könnte sie fragen. Ich würde ihr die Geschichte vom Erzengel Michael erzählen, der einem Papst über der Burg erschienen sein soll und ihm das Ende der Pest verkündete. Danach ging die Pest tatsächlich zu Ende. Und so was glaubst du?
    Gleich Viertel vor elf. Ich laufe zum Wagen zurück, habe einen Strafzettel bekommen, zum Glück keine Parkkralle.
    Wohin fahre ich jetzt? Ich schlage den Stadtplan auf. Tessa und ihr Freund werden müde sein. Vielleicht schlafen sie im Auto, auf dem Parkplatz eines Supermarkts, irgendwo am Rande der Stadt. Mein Finger wandert am Tiber entlang in Richtung Norden. Ich lese
Stadio Olimpico,
und auf einmal weiß ich, wo ich nach ihnen suchen werde. In der Jugendherberge. Viale delle Olimpiadi. Wieso bin ich nicht eher darauf gekommen? Im
Ostello della Gioventù al Foro Italico
habe ich vor zwanzig Jahren meine ersten Nächte in Rom verbracht.
    Ich brauche eine halbe Stunde, dann stehe ich vor dem Gebäude. Die Jugendherberge ist seit dem 1 . Februar 2011 geschlossen.
     
    Francesco kommt mir im Flur entgegen. Ich gehe an ihm vorbei in die Küche.
    »Judith …«
    Ich setze mich an den Tisch, sage nichts.
    »Du warst lange unterwegs. Ich … habe mir Sorgen gemacht …«
    »Wie bitte?«
    »Es tut mir leid …« Er setzt sich mir gegenüber und schenkt uns Wasser ein. »Ich hätte deiner Tochter kein Geld geben sollen … Es war eine Kurzschlussreaktion … Ich … konnte es nicht ertragen, sie dort an der Tür stehen zu sehen … wollte sie so schnell wie möglich loswerden.«
    »Dazu hattest du kein Recht. Was hast du mit meiner Tochter zu tun?«
    »Ich weiß, ich … hätte mich da völlig raushalten sollen.«
    »Sie ist nach Rom gekommen, um mit mir zu reden! Und jetzt ruft sie mich nicht zurück, weil sie nach deiner herzlosen Aktion die Nase voll hat.«
    »Judith, ich …«
    »Wenn du denkst, dass ich sie wieder aus meinem Leben streichen werde, hast du dich getäuscht«, sage ich und trinke einen Schluck Wasser. »Das werde ich nicht tun, auch wenn sie heute Abend nicht mit mir sprechen will. Ich möchte nicht das wiederholen, was ich mit meinen Eltern erlebt habe … dieses Ende jeglicher Verbindungen.«
    »Vielleicht meldet sie sich morgen …«
    »Oder sie ist längst auf dem Weg zurück nach Hamburg.«
    »Sie sieht dir sehr ähnlich«, sagt Francesco leise. »Ich habe mich richtig erschrocken …«
    Wir schweigen.
    Hat er deshalb so seltsam reagiert? Hat er erst heute begriffen, was es bedeutet, dass ich ein Kind habe?

[home]
    41.
    I ch kann nicht einschlafen. Immer wieder sehe ich Francesco vor mir, wie er sein Portemonnaie zückt und Tessa vier Scheine überreicht. Warum hat sie sie angenommen? Sie hätte sagen können, was soll das? Deshalb bin ich nicht hier. Aber nein, ihr gefiel der Gedanke, Geld zu bekommen. Money is always useful. Wollte sie mich damit provozieren? Vielleicht war es von vornherein nicht ihre Idee, mich aufzusuchen. Vielleicht hat ihr Freund meinen Brief gelesen und vorgeschlagen, nach Rom zu fahren. Freitagabend los auf die Autobahn, gegen Morgen ein paar Stunden auf einem Parkplatz schlafen und dann weiter nach Italien. Eine verrückte Idee, ganz in Tessas Sinne.
    Vincenzo hat recht behalten. Durch ihren Anblick ist etwas in Francesco in Bewegung geraten. Das erste Gespräch nach fast fünf Wochen, eine merkwürdige Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit. Ich nehme es ihm ab, dass es ihm leidtut. Aber so schnell kann ich seine Worte von neulich nicht vergessen. Unsere Wertmaßstäbe sind offenbar nicht dieselben.
    Ich höre ihn über den Flur gehen. Es hat etwas Tröstliches, dass auch er noch wach ist.
    Einen Moment lang überlege ich, ob ich aufstehen und uns eine heiße Schokolade machen soll.
    Nein, wir haben für heute genug geredet. Ich muss schlafen, wenigstens ein paar Stunden. Ich brauche Kraft für morgen.
     
    Ich stehe auf der Terrasse und beobachte, wie die Sonne aufgeht. Es weht ein kühler Wind. Von irgendwoher duftet es nach frisch gebackenem Brot. Ein ruhiger Sonntagmorgen, aber ich bin alles andere als ruhig.
    Es ist kurz nach sieben. Ab wann kann ich Tessa anrufen?
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher