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Feine Familie

Feine Familie

Titel: Feine Familie
Autoren: Tom Sharpe
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vermischte massivste Vorurteile in einem derartigen Ausmaß mit unwiderlegbarer Statistik, daß seine Studenten der Notwendigkeit nachzudenken so völlig enthoben waren, als hätte man von ihnen verlangt, ein Telefonbuch auswendig zu lernen –, daß seine Ernennung zum Professor für Proletarische Geschichtsschreibung lediglich eine Frage der Zeit und unermüdlicher Veröffentlichung war.
    Und so galt er mit dreißig als der seit G. D. H. Cole und sogar Thompson erbarmungsloseste Chronist der Abscheulichkeiten, die die englische Arbeiterschaft der nachindustriellen Revolution zu erdulden gehabt hatte. Noch wichtiger, zumindest aus seiner Sicht, war die Tatsache, daß er die bevölkerungsstatistische Geschichtsschreibung nahezu zu einer Kunstform erhoben hatte, indem er mehrere Fernsehspiele mit dem treffenden Reihentitel Probieren geht über Studieren über die qualvolle Situation der Arbeiterfamilie im Viktorianischen Zeitalter geschrieben hatte. Wenn diese auch kaum zur Verbesserung seines Rufes in spießigen Akademikerkreisen beigetragen und mehr als einen Zuschauer zum Erbrechen gebracht hatten, so erfüllten sie doch den Zweck, den Namen Waiden Yapp bekannt zu machen. Aber das war noch nicht alles. Auch im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen hatte Yapp seine Spuren hinterlassen. Regierungen, die ängstlich darauf bedacht waren, im erbitterten Kampf zwischen Unternehmern und Gewerkschaften unparteiisch zu erscheinen, konnten sich jederzeit darauf verlassen, daß Waiden Yapp bei unmäßig ausufernden Streiks als Vermittler tätig wurde. Und während die Geldsäcke Yapps Schlichtungsformel für unzumutbar hielten, stieß sie bei den Gewerkschaften unweigerlich auf Zustimmung. Sie basierte auf der simplen Annahme, daß die Nachfrage das Angebot bestimme und daß, was für die Wirtschaft gelte, automatisch auch für Tarifverhandlungen zu gelten habe. Yapps Verfechtung dieser Formel in heftigen Diskussionen, die sich über Stunden, Tage und schlaflose Nächte hinzogen, hatte dazu geführt, daß einige bis dahin Gewinn abwerfende Firmen verstaatlicht werden mußten und daraufhin in extrem rechten Kreisen der Verdacht laut wurde, Yapp sei ein Agent des Kremls.
    Dabei hätte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Waiden Yapps Hingabe an die Demokratie war so grundehrlich wie seine Überzeugung, daß es nicht unbedingt Arme geben mußte, diese aber, solange es sie gab, auf jeden Fall das Recht auf ihrer Seite hatten. Das war ein sehr schlichter Standpunkt, auch wenn er ihn nie so schlicht formulierte. Aber er ersparte Yapp die Mühe, andere als rein persönliche Entscheidungen treffen zu müssen.
    Doch genau in diesem Punkt fehlte es seinem Leben an Erfüllung. Er hatte kein nennenswertes Privatleben, und das bißchen, das er hatte, konnte man beim besten Willen nicht als normal bezeichnen. Erst eine einsame Kindheit, dann ein einsames Erwachsenenleben, wobei beides so abstrakt blieb, daß man unmöglich hätte sagen können, er sei je Kind gewesen oder erwachsen geworden. Er blieb ein Sonderling, und so, wie die Studenten in seine schlichten Vorlesungen strömten, strömten seine Kollegen aus der Cafeteria, sobald er hereinkam, um sich nicht seine tödlich langweiligen, völlig belanglosen Monologe anhören zu müssen, die er fälschlicherweise für Gespräche hielt.
    Kurz: Waiden Yapps Privatleben bestand darin, daß er Tutorenkurse für seine Studenten abhielt, Doktoranden bei ihren Arbeiten half, mit verwirrten Produzenten über seine Fernsehspiele diskutierte und last not least mit dem Computer, den Lord Petrefact der Universität gestiftet hatte, Schach spielte. Hätte man ihn nach seinem besten Freund gefragt, hätte er wahrheitsgemäß den Computer genannt. Strenggenommen war der sein einziger Freund. Das beste an ihm war, daß er Tag und Nacht zur Verfügung stand. Er befand sich im Souterrain der Bibliothek und konnte nicht vor ihm davonlaufen. Yapp konnte entweder hinuntergehen und sich dort ans Terminal setzen oder, noch bequemer, das Terminal neben seinem Bett einschalten, seinen Benutzercode eingeben und sofort bis zu seinem elektronischen alter ego vordringen. Denn genau das war es. Wenn er das Universitätsgelände verließ, konnte er sein Modem mitnehmen und seine Diskussionen mit dem Computer aufnehmen, indem er es einfach an einen Telefonhörer anschloß. Da er den Computer seinen eigenen Vorstellungen gemäß programmiert hatte, bot dieser den unschätzbaren, bei keinem menschlichen
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