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Feine Familie

Feine Familie

Titel: Feine Familie
Autoren: Tom Sharpe
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Freund zu findenden Vorteil, daß er ihm nur selten widersprach und auch dann nur, wenn es um Tatsachen, nicht aber um Ansichten ging. Er hatte ihn mit all seinen Statistiken, seinen Erkenntnissen und Theorien gefüttert, und er leistete ihm als einziger Gesellschaft. So ziemlich das einzige, was nicht ging, war, mit ihm zu schlafen, nicht, weil Yapp etwas gegen seine äußere Erscheinung einzuwenden gehabt hätte – die fand er ganz und gar akzeptabel –, sondern weil er Angst vor einem tödlichen Stromschlag hatte und davor, daß sein physisches Eindringen ihrer herrlichen, wenn auch platonischen Beziehung mit Sicherheit ein Ende bereiten würde. Daß es sich um eine echte Freundschaft handelte, daran gab es für Yapp keinen Zweifel. Der Computer verriet ihm eine Menge über die Arbeit seiner Kollegen, und um in ihrer Korrespondenz blättern oder sich über ihre jüngsten Erkenntnisse informieren zu können, brauchte er lediglich ihre Benutzercodes einzugeben. Daß diese eigentlich geheim waren, stellte kein Hindernis dar. Die in Gesellschaft des Computers verbrachten Tage und Nächte hatten ihm einen umfassenden Einblick in dessen ureigenste Sprache und Denkweise gewährt. Es war, als hätte er – oder sie, was Yapp vorzog– ihre Entwicklungsjahre mit dem Verdauen von Zugfahrplänen verbracht und diese nach ähnlichen Gesichtspunkten wie er analysiert und reorganisiert. Ja, für Yapp gab es keinen Zweifel, daß sie sein Freund war. Und mit ihrer Hilfe würde er sich jenes totale Wissen über alles und jedes aneignen, das, wie ihn seine Erziehung gelehrt hatte, den eigentlichen Sinn des Lebens ausmachte. In der Zwischenzeit mußte er sich um die lästige Realität kümmern.

Kapitel 3
    Erstmals kündigte die Realität ihre Einmischung in sein Leben in Gestalt eines Briefumschlages an, dessen Rückseite ein Wappen zierte. Es zeigte einen Greif. Zumindest hielt Waiden ihn dafür, obwohl er verdächtig nach einem Geier aussah. Da er den Umschlag in seinem Fach in der Fakultät gefunden hatte, nahm er zunächst an, er sei versehentlich dorthin geraten. Aber nein, er war an Professor Waiden Yapp adressiert und enthielt einen auf ebenfalls wappenversehenem Papier mit der Maschine geschriebenen Brief, in dem es hieß, Lord Petrefact würde sich am kommenden Wochenende in Fawcett House aufhalten und es begrüßen, wenn Professor Yapp ihn dort besuchen würde. Er wolle sich mit ihm darüber unterhalten, ob er eine Möglichkeit sähe, »die Familiengeschichte der Petrefacts mit besonderer Betonung der Rolle, die diese Familie im Wirtschaftsleben des Landes spiele, zu schreiben«.
    Ungläubig starrte Yapp auf den letzten Satz. Er wußte nur zu gut, welche Rolle die Familie Petrefact im englischen Wirtschaftsleben spielte. Eine bemerkenswert üble. Eine Unzahl von Fabriken, Bleiwerken, Spinnereien, Gießereien und Schiffswerften kämpften in seinem Kopf um den ersten Platz in puncto Niederträchtigkeit. Wo immer die Arbeit am billigsten, die Arbeitsbedingungen am miserabelsten und die Gewinne am höchsten waren, hatten die Petrefacts die Hand im Spiel. Und da forderten sie ausgerechnet ihn auf, die Familiengeschichte zu schreiben? In Anbetracht der Tatsache, daß er ihre Rolle als Ausbeuter der Arbeiterklasse mindestens in zweien seiner Fernsehspiele erwähnt hatte, erschien diese Einladung äußerst seltsam. Ungefähr so seltsam wie die Vorstellung, daß die Rockefellers Angela Davis aufforderten, etwas über ihre Rolle bei der Rassenverständigung zu Papier zu bringen. Sogar noch seltsamer. Sie war einfach absurd. Mit der Vermutung, daß sich ein Witzbold, der irgendwie an das Briefpapier mit dem Wappen der Petrefacts herangekommen war, einen Scherz erlaubt hatte, ging Yapp in den Hörsaal, wo er eine selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich grausige Darstellung des Streiks der Streichholzarbeiter lieferte.
    Doch als er in sein Zimmer zurückkehrte, lag der Brief noch immer auf dem Schreibtisch, und der Greif sah noch mehr nach einem Geier aus. Einen Augenblick lang erwog Waiden Yapp, die Sache mit dem Computer zu erörtern, als ihm einfiel, daß der schließlich von Lord Petrefact gestiftet worden und sein Urteilsvermögen aufgrund dessen möglicherweise getrübt war. Nein, er mußte sich selbst ein Urteil bilden. Und so griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Fawcett House. Daß sich ein Mann meldete, der sich als Tiefkühlkostkontrolleur der Firma Mietmensch KG ausgab und behauptete, er sei nicht in
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