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Feine Familie

Feine Familie

Titel: Feine Familie
Autoren: Tom Sharpe
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Ausbildung erhielt, und ihn ansonsten der Obhut einer stocktauben und religiös angehauchten Tante überließ.
    Unter diesen Umständen konnte es kaum überraschen, daß Waiden Yapp zu einem außergewöhnlichen jungen Mann heranwuchs. Daß er überhaupt heranwuchs, war an sich schon erstaunlich. Abgeschirmt von der normalen Welt der Kinder und ihren üblen Angewohnheiten und vollgestopft mit einer intellektuellen Diät, bestehend aus der Offenbarung und den flammenden Reden seiner Mutter, war für ihn im Alter von zehn Jahren beides so fest zu einer einzigen Doktrin verschmolzen, daß es passieren konnte, daß er bei Labour-Versammlungen Jesus, meine Zuversicht sang und in der Dorfkirche die Internationale schmetterte. Doch bestand seine Besonderheit nicht nur darin, daß er Religion und Politik blind in einen Topf warf; auf seine Art war Waiden Yapp genial. Aufgrund ihrer wilden Entschlossenheit, sein Denken rein und unbefleckt zu halten, hatte seine Tante ihm jegliche Lektüre mit Ausnahme der Bibel und der Encyclopedia Britannica verboten. Waiden hatte beides so viele Male von Anfang bis Ende gelesen, daß er bereits als Neunjähriger in der Lage war, auf Anhieb zu erklären, daß eine Zygote ein befruchtetes Ei oder Ovum war. Sein Wissen war im wahrsten Sinne des Wortes enzyklopädisch und, wenn auch nur alphabetisch strukturiert, so gewaltig, daß es für seine Lehrer unbequem wurde. Auch das trug dazu bei, ihn von den anderen Kindern zu isolieren, die es wenig interessierte, woher der Buchstabe A stammte oder daß ein Abakus eine Frühform der Rechenmaschine war. Waiden ging seinen eigenen Weg. Wenn er keine Lust mehr hatte, Lexikonartikel zu memorieren, wandte er sich dem einzigen anderen Lesestoff im Haus zu, einem Stapel von Eisenbahnfahrplänen, die einst seinem Großvater gehört hatten.
    Und hier offenbarte sich zum erstenmal sein Genie. Während sich andere Jungen mit den Wirrungen der Pubertät herumschlugen, entdeckte Waiden, daß man von Euston nach King's Cross am besten über Peterborough, Crewe, Glasgow und Aberdeen gelangte, wobei anzumerken ist, daß der in seinen Augen beste Weg der komplizierteste war. Die Tatsache, daß die Hälfte der Bahnstationen längst nicht mehr existierte und einzelne Strecken aufgelassen worden waren, spielte keine Rolle. Er gab sich damit zufrieden, daß er im Jahr 1908 kreuz und quer durch Großbritannien hätte fahren können, ohne sich auch nur ein einziges Mal am Schalter nach Abfahrts- und Ankunftszeit des nächsten Zuges erkundigen zu müssen. Noch mehr Vergnügen bereitete es ihm, nachts im Bett zu liegen und sich vorzustellen, wie sich die gleichzeitige Veränderung von Anschlüssen an drei strategisch wichtigen Punkten auswirken würde. Seinen Berechnungen zufolge wäre es möglich gewesen, damit das gesamte Streckennetz der London, Midland und Scottish Railway, der London and North-Eastern Railway und der Great Western Railway völlig lahmzulegen. Und genau hier, bei diesen eigenwilligen Kombinationen von nutzlosem Wissen und völlig wertlosen mathematischen und räumlichen Berechnungen, nahm Waiden Yapps brillante Zukunft ihren Anfang. Von der Realität hatte er keinen Dunst. Andererseits verblüffte seine phänomenale Beherrschung der Theorie seine Lehrer und Prüfer derart, daß sie ihn, ohne um die Grenzen seines Intellekts zu wissen, so schnell wie möglich von der Schule auf die Universität und von einem Examen mit Auszeichnung zu seiner Promotion befördern mußten. Tatsächlich war seine Doktorarbeit über Die Verbreitung des zervikalen Karzinoms bei weiblichen Bergarbeitern im Jahr
    1840, für die er sich die statistischen Grundlagen aus den Akten der Krankenhäuser und Arbeiterheimstätten in der Gegend um Newcastle zusammengesucht hatte, so bestürzend und im Detail so widerwärtig, daß sie bereits im ersten Durchgang anerkannt wurde – von einem Prüfer schon nach einem flüchtigen Blick auf die ersten paar Seiten.
    Aufgrund eben dieser Reputation für einen unreflektierten Radikalismus und unreflektiertes Denken überhaupt, bot man ihm ein Forschungsstipendium in Kloone an. Von diesem Moment an hatte Waiden Yapp nie mehr zurückgeschaut, oder, genauer gesagt, er hatte nie aufgehört zurückzuschauen, während er sich unaufhaltsam vorwärts bewegte. Seine zweite Monographie, Syphilis: ein Instrument des Klassenkampfes im 19. Jahrhunden, hatte seinen Ruf noch untermauert, und seine Vorlesungen erfreuten sich solcher Beliebtheit – er
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