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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss
Autoren: Anna Geller
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Stadt, Heinz.“
    „Kunde“ war im Jargon des Dezernats für Todesermittlungen der etwas
makabre Ausdruck für Menschen, die auf gewaltsame Weise ihr Leben gelassen
hatten.
    „Statistisch gesehen nicht mehr als in jeder anderen Großstadt“, gab
Hellwein zu bedenken. „Letztes Jahr hatten wir elf Morde und dreiundzwanzig Mal
Totschlag. Elf Tote mehr als im Jahr davor, zugegeben. Gemessen an der
Bevölkerungszahl aber immer noch guter Durchschnitt.“
    Hellwein, der im ganzen Haus nur als „Statistik-Heinz“ bekannt war,
weil er sämtliche Zahlenreihen, die auf seinen Tisch flatterten, im Kopf
behielt, versuchte, sich seine plötzliche Verunsicherung nicht anmerken zu
lassen. Er arbeitete jetzt seit fünf Jahren mit Susanne zusammen. Er mochte
sie, und er mochte seinen Job. Was er nicht mochte, war Resignation. Sie war
unproduktiv und führte zu nichts. Aber gelegentlich fragte er sich, ob er auch
dazu neigen würde, wenn er erst mal so lange dabei wäre wie die Kommissarin.
    „Und warum komme ich mir dann manchmal vor wie dieser alte Grieche mit
dem Stein?“, unterbrach sie seine Gedanken und sah ihn über den Rand ihrer
Lesebrille hinweg an. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sein dunkles Haar an
den Schläfen grau wurde und sich zur Mitte des Schädels hin lichtete.
    „Sisyphus? — Da würd´ ich eher auf Personalmangel tippen.“
    Seine Vorgesetzte warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Die
angespannte Personalsituation war ein Punkt, der sie immer wieder grimmig
stimmte. Alle Augenblicke erhöhten sich die Abgeordneten selbst die Diäten oder
Pensionszuschüsse, aber das Geld, mehr Polizisten einzustellen, war nicht da.
Sie mochte gar nicht daran denken, wie viele Ermittlungen sich dadurch
gefährlich lange hinschleppten. Bei dem ermordeten Taxifahrer zum Beispiel,
waren die entscheidenden Hinweise aus der Bevölkerung schon ganz am Anfang eingegangen.
Sie hatten nur keine Beamten, die sich darum kümmern konnten. Und so war der
Täter — ein Mensch mit hohem Gewaltpotential — noch drei Monate frei
herumgelaufen.
    Entschlossen stand Hellwein auf und machte einen großen Schritt über
die Ordner am Boden. Aufräumen konnte er auch Montag noch. „Komm, lass uns hier
verschwinden“, sagte er und schnappte sich sein Sakko vom Garderobenständer.
    „Bevor einer auf die Idee kommt, zum Wochenende einem anderen den
Schädel einzuschlagen, meinst du?“ Susanne nahm die Brille ab, steckte sich
achtlos in die linke Tasche ihres zerknitterten Blazers und kramte in der
rechten nach den Autoschlüsseln. „Nichts wie raus hier!“
    „Wann fährst du?“, fragte Hellwein auf dem Weg nach unten. Seine
Stimme hallte in dem weitläufigen Treppenhaus wider.
    „Morgen früh“, gab Susanne so strahlend zurück, als hätte sie einen
vierwöchigen Urlaub in der Karibik vor sich. Dabei wollte sie nur nach Unna, zu
ihrem Bruder. Monatelang aufgeschoben und nun endlich in Angriff genommen. Bis
Sonntagabend so etwas wie Familie genießen. Einen quirligen Haufen von sechs
Kindern, von denen die zwei ältesten ihre Patenkinder waren.
    Mein Gott, sechs!, überlegte Susanne auf der Heimfahrt. Und es würde
sie nicht wundern, wenn ihre Schwägerin morgen verkündete, das siebte sei im
Anmarsch. Für sich selbst hatte sie sich nie Kinder vorstellen können. Ihr Job
war aufreibend, geprägt von Überstunden und Nachtarbeit. Wie hätte das mit
Kindern funktionieren sollen? Und ihren Beruf, den sie gleichzeitig liebte und
hasste, aufzugeben, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Obwohl — wenn Peter noch
lebte, wenn sie mehr Zeit miteinander gehabt hätten …
    Susanne fuhr sich müde mit der Hand über die Stirn und würgte die
Überlegung ab. Wie immer, wenn Peter Braun es wagte, sich in ihre Gedanken zu
schleichen.

Vier
     
    Auf der
kurzen Fahrt zu seiner Wohnung in der Piusstraße dachte Chris über Hans nach.
Dieser seltsam unsichere und farblose Mann, der bewundernd an Annes Lippen hing
und widerspruchslos alles tat, was von ihm verlangt wurde. Wohl die Art Mann,
die Anne brauchte. Und die einzige Art Mann, die es mit Anne aushielt.
Zumindest schien ihre Beziehung sehr harmonisch zu verlaufen. Anne und Chris
dagegen hatten immer auf einem Vulkan getanzt. Anne, die selten eine andere
Meinung als ihre eigene gelten ließ, und Chris, der nichts mehr hasste als
Autorität.
    Zum ersten Mal wurde ihm in aller Deutlichkeit bewusst, dass sich auch
ihre Freundschaft dem Ende zuneigte — wenn es denn je eine Freundschaft
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