Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss
Autoren: Anna Geller
Vom Netzwerk:
arbeiten wollte, war er auf solche Eickbooms und ihre Honorare
angewiesen.
    „Seine“ Mädels! Mit Tinnis „Caribbean Club” und irgendeiner
Steuergeschichte hatte es angefangen. Tinni hatte in die Gelben Seiten gesehen
und die Nummer von Chris gewählt, weil ihr „der Name so gut gefiel“, wie sie
heute noch behauptete. Die Sache mit dem Finanzamt war schnell geklärt. Aber
kurz darauf wandte sich der Sozialdienst katholischer Frauen an ihn und bat um
Unterstützung für eine drogenabhängige Prostituierte, die so oft im Sperrbezirk
erwischt worden war, dass der Richter sie jetzt ohne Bewährung in den Knast
schicken wollte, obwohl ihr ein Therapieplatz sicher war. Chris kümmerte sich,
und die Welt, die er dabei kennenlernte, machte ihn traurig und wütend
zugleich. Er sah Armut, Ausgrenzung, Krankheit, Drogenprobleme, Ausbeutung und
Menschenhandel… Und dann war da die Sozialarbeiterin aus dem Frauenhaus
aufgetaucht. Erzählte ihm von einer Bewohnerin, die ihren Mann wegen Vergewaltigung
angezeigt hatte, absolut pleite war und einen Anwalt brauchte. Natürlich könne
man auch über das Sozialamt und so, aber … Sie bettelte nicht, erbat nichts,
erzählte nur.
    Chris war den Verdacht nie losgeworden, dass Tinni ihm diese Frauen
geschickt hatte. Wie auch immer — heute waren die meisten seiner Klienten
Kleinkriminelle oder Frauen, und davon wieder lebten die meisten in
katastrophalen Verhältnissen und hatten kaum das Nötigste. Wie die „lange
Sabine“, die mit ihren 53 Jahren eigentlich zu alt für den Straßenstrich war.
Die Geschäfte liefen für sie immer schlechter, die Miete konnte sie kaum noch
aufbringen, und ihr einziger „Luxus“, eine private Krankenversicherung, wollte
für ihre AIDS-Erkrankung nicht zahlen. Nach einem bitterbösen Briefwechsel
zwischen Chris und der Krankenkasse zahlten sie dann letztendlich doch.
    Er war froh, dass er für all diese Frauen etwas tun konnte. Aber jedes
Mal stand er vor einem Problem. Schließlich musste auch er von irgendetwas
leben, eine Mitarbeiterin und die Miete fürs Büro bezahlen. Außerdem saß ihm
auch hier wieder die „BRAGO“ im Nacken, denn nicht nur Erfolgshonorare galten
als standeswidrig, sondern auch, wenn er zu wenig verlangte. Frauen wie Sabine
waren jedoch nicht einmal in der Lage, das Mindesthonorar, das die „BRAGO“
vorschrieb, aufzubringen. Also „vergaß“ Chris oft einfach einen Teil der
Leistungen, die er erbrachte.
    Und genau deshalb war ein gewisser Stamm zahlungskräftiger Klienten so
wichtig. Die Eickbooms dieser Welt sicherten nicht nur halbwegs sein Einkommen,
sondern auch sein Engagement für die Frauen, die die Gesellschaft ausgrenzte.
Eigentlich hätte er also zufrieden sein müssen. Wenn er in letzter Zeit nicht
immer öfter das Gefühl gehabt hätte, sich in der Nussschale totzuarbeiten. Wenn
der Sozialdienst fünf illegale Russinnen von der Straße geholt hatte und er
Aufenthaltsgenehmigungen, vielleicht noch Arbeit und Wohnung besorgte, oder
Geld für das Ticket nach Hause, rückten zehn andere nach. Und waren es keine
Russinnen, dann kamen Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien, oder, oder, oder…
    Schluss damit, Christian Sprenger! Mach, dass du nach Hause kommst!
Wochenende! Feierabend! Der Regen prasselte immer heftiger auf das Blech seines
alten Nissan. Die Scheibenwischer führten mit ihrem satten „Flapp-Flapp-Flapp“
einen fast aussichtslosen Kampf dagegen. Streckenweise stand das Wasser auf der
Fahrbahn, und er spürte, wie der Wagen sekundenlang zu schwimmen schien. Sehen
konnte er so gut wie nichts mehr.
    Er hatte die Abkürzung durch das Industriegebiet Ossendorf genommen,
eine trostlose Gegend, in der es nachts außer Fabrikschloten und Lagenhallen
nur parkende LKWs und Ratten gab. Der Wagen holperte über Kopfsteinpflaster.
Jetzt nur noch diesen blöden Anzug loswerden, dessen Wollstoff an seinen Beinen
kratzte und die verdammten Schuhe von den Füßen schleudern, zwei Finger breit
Glenfiddich ohne Eis, und in einer heißen Badewanne das Wochenende einläuten.
Das war alles, wonach ihm der Sinn stand.
    „Verdammt!“, presste er plötzlich durch die Zähne und trat behutsam
auf die Bremse. Trotzdem geriet der Wagen einen Augenblick ins Rutschen. Ein
Stück vor ihm war im Regenschleier eine verschwommene Figur aufgetaucht, die er
zunächst nur als helles Hemd wahrnahm. Die Gestalt verharrte einen Moment lang
auf der Fahrbahn, ging dann — nein, taumelte auf den Bürgersteig zu und
verschwand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher