Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
Vom Netzwerk:
Wahrsager und wie wir über seine Worte gelacht haben? Nun, er hat recht gehabt.
    Ich will hier nicht alt werden, und ich möchte nach Hause. Wenn Du je an mich denkst, entsinne Dich der Tage und Nächte, die wir hier mit Lachen und Träumen zugebracht haben. Vergiss die Trauer und die Tränen.
    Ich erinnere mich an den Abend, als Du mir die Gedichte vorgetragen hast, die Du auch für Yiping rezitiert hattest. Am besten hat mir das von Li Bai gefallen.
    Du fragst, wie ich meine Zeit verbringe –
    Ich schmiege mich an einen Baumstamm
    Und lausche Tag und Nacht
    Den Herbstwinden in den Kiefern.
    Der Shantung-Wein vermag mich nicht trunken zu machen.
    Die hiesigen Dichter langweilen mich.
    Meine Gedanken verweilen bei dir,
    Endlos fließend wie der Fluss Wen.
    Verabschiede Dich auch in meinem Namen von den Kindern und sage ihnen, sie sollen fleißig lernen.
    Meine Gedanken weilen bei Dir, Yimao.
    Endlos fließend.
    Dongmei
    Als ich zu Ende gelesen hatte, schnürte mir der Schmerz die Kehle zu. Ich stürzte hinaus, um Atem zu schöpfen. Schluchzend lief ich zwischen dem Schulgebäude und dem Steg hin und her. Alle paar Minuten sah ich zu dem Pfad hoch, der zum Berggipfel führte, und rief nach ihr. Doch es antwortete nur das klagende Echo meiner eigenen Stimme. Am nächsten Tag begann wieder der Unterricht. Ich rief alle Schüler in ein Klassenzimmer zusammen und teilte ihnen mit, dass ich die einzige verbliebene Lehrerin war. Ich wusste nicht, ob sie bereits erfahren hatten, was mit Dongmei geschehen war. Also sagte ich nur: »Von der Lehrerin Xiang soll ich euch ausrichten, dass ihr fleißig lernen sollt. Und dass sie jeden Tag an euch denkt.« Auf meine Worte folgten Schweigen und Tränen.
    Ein Funktionär vom Brigadehauptquartier kam am Nachmittag vorbei und sagte mir, in zwei Tagen würde ein neuer Lehrer eintreffen. »Ich weiß, dass du uns verlässt«, meinte er. »Aber ich hätte gern, dass du noch bleibst, bis er da ist.«
    Ich war einverstanden. »Doch ich habe eine Bitte«, sagte ich dann. »Kann ich Dongmei noch einmal sehen, bevor ich abreise?«
    Er warf mir einen beklommenen Blick zu. »Ich fürchte, das geht nicht«, erwiderte er. »Einige Dorfbewohner haben sie springen sehen. Aber das Tal ist dort sehr tief. Es war unmöglich, sie zu bergen.«
    Bei diesen Worten brach ich abermals zusammen.
    Zwei Tage später verließ ich die Tongxin-Schule. Beim Abstieg fasste ich den Entschluss, einen Umweg zu machen und Yiping zu besuchen. Als ich mich seinem Dorf näherte, kam ich an der Siedlung vorbei, wo einst der Tiger in dem Käfig gefangen gehalten worden war. Was mochte aus ihm geworden sein? Die mächtigen Balken, aus denen man den Käfig gezimmert hatte, waren vor der schäbigen Hütte des Jägers aufgeschichtet. Ich erinnerte mich, wie die Bauern mit großen Augen das gefangene Tier angeglotzt hatten, dessen tiefes Knurren wie fernes Donnergrollen klang und das immerzu an den Gitterstäben kratzte. Vielleicht war er ja entflohen und lief wieder frei in den Bergen herum. Hoffentlich.
    Im letzten Moment besann ich mich anders. Welchen Sinn hatte es denn, Yiping aufzusuchen? Ich ging aus den Bergen fort, während er zurückblieb. Ein Wiedersehen hätte uns beide nur an die Tragik unserer erzwungenen Trennung erinnert. War es nicht besser, Yiping so in meinem Herzen zu bewahren, wie er gewesen war, als wir einander Gedichte vorlasen und Hand in Hand durch die Wolken stiegen? Also machte ich kehrt, ging gemächlich an dem zerlegten Tigerkäfig vorbei und setzte den Abstieg fort.
    Als ich mich dem Fuß des Berges näherte, merkte ich, wie mir Stück für Stück eine unsichtbare Last von den Schultern genommen wurde. Mein Gang wurde leichter und beschwingter. Eine frische Morgenbrise strich mir zart und kühlend über das Gesicht. Ich fühlte mich wie eine Feder, die friedlich vom Himmel auf die Erde herabschwebt. An der Haltestelle angekommen, setzte ich mich auf meine Tasche und wartete. Als ich hörte, wie der Bus in der Ferne die Straße heraufkroch, sprang ich sogleich auf. Mit keuchendem Motor blieb er wenige Meter vor mir stehen, und ich stieg ein.
    Als wir losfuhren, sah ich aus dem Fenster. Ich genoss das Glück dieses Augenblicks, von dem ich viele Jahre geträumt hatte. Gleichzeitig dachte ich voller Schmerz an die Menschen, die ich zurücklassen musste. Ich schaute ein letztes Mal hinauf zu den grünen Gipfeln, den terrassenartig angelegten Reisfeldern, den Teesträuchern, den schäbigen Hütten, den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher