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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
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Kinder spielten rings um das Haus. »Das muss die Schule sein«, sagte ich mir. »Aber wo ist das Dorf?«
    Zwischen dem Bergpfad und der Schule schoss ein Fluss den steilen Hang hinab. Ein einzelner Baumstamm von kaum mehr als dreißig Zentimeter Durchmesser diente als Steg über das reißende Wasser. Zögernd blickte ich in den tosenden Strom hinab. Das Wasser war sauber und klar, im Flussbett konnte ich Felsen und Kiesel erkennen. Ich stellte mein Gepäck ab. Als mich die Kinder auf der anderen Seite des Flusses sahen, riefen sie fröhlich zu mir herüber und rannten zu ihrem Ende des Stegs. Eine junge Frau, die ich für die Lehrerin hielt, gesellte sich zu ihnen. »Los, komm«, riefen sie, »es ist ganz leicht.«
    Zwei Jungen liefen behände über den Baumstamm, um mir das Gepäck zu tragen. »Bist du die neue Lehrerin?«, fragte einer.
    Ich nickte.
    »Komm«, rief er. »Hab keine Angst.« Und schon waren die beiden über den Steg zurückgerannt.
    Ich starrte auf den Baumstamm und versuchte, die Felsen und den Fluss auszublenden, der mehr als drei Meter unter mir dahinrauschte. Den Blick zur Seite gewandt, bewegte ich mich im Schneckentempo über den Steg.
    Als ich sicher drüben angekommen war, trat die junge Frau auf mich zu. »Bist du die neue Lehrerin?«, fragte sie.
    »Ja.«
    »Wir haben dich schon erwartet. Man hat mir gesagt, dass du kommen würdest. Ich bin Xiang Dongmei.«
    »Ich heiße Wu Yimao.«
    Gefolgt von der lärmenden Kinderschar, gingen wir zum Schulhaus.
    Dongmei zeigte mir das Gebäude. Es war in vier Räume unterteilt: zwei Klassenzimmer, eine Küche und ein Zimmer für die Lehrerinnen, das gleichzeitig als Schlafraum und Büro diente.
    Dongmei erkundigte sich nach meiner Ausbildung und meinem Leben in Luo. »Hat man dir auch gesagt, warum hier eine Stelle frei geworden ist?«, fragte sie schließlich.
    »Mir hat niemand irgendwas gesagt.«
    »Bis vor vier Wochen war hier noch eine andere gebildete Jugendliche aus Shanghai, die mit mir zusammen unterrichtet hat. Nachdem die Kinder in ihre Dörfer zurückgekehrt waren, machte sie eines Abends einen Spaziergang am Fluss. Nicht weit von hier wurde sie von einer Bambusblattviper in den Finger gebissen. Sie schrie, und glücklicherweise war ein Bauer in der Nähe, der gerade Bambus schnitt. Als er herbeigeeilt kam, erzählte sie ihm, was passiert war, und beschrieb ihm die Schlange. Der Mann sagte, sie solle die Augen schließen und die Hand ausstrecken. Er drückte ihre Hand gegen einen Fels und hackte mit seinem Beil den gebissenen Finger ab. Dann wickelte er die blutende Hand in sein Hemd und trug die Frau hierher. Einige Bauern brachten sie hinunter ins Krankenhaus. Nachdem sie dort genesen war, erlaubte man ihr wegen ihrer Behinderung, nach Shanghai zurückzukehren.«
    Mich schauderte.
    »Wenn ich gebissen worden wäre«, seufzte sie, »hätten sie mich nie und nimmer nach Hause geschickt. Ich stamme aus einer schwarzen Familie. Ich sitze hier fest bis an mein Lebensende.«
    »Ich auch«, sagte ich.
    »Schwarze Familie?«
    »Ja.«
    Sie deutete auf ein unbenutztes Bett an der Wand und sagte: »Das war ihres. Jetzt ist es deines. Willkommen in der Tongxin-Schule.«
    Während ich auspackte, informierte sie mich über den Unterrichtsablauf. Die Kinder waren in zwei Klassenzimmern untergebracht, die Klassen eins bis drei in einem Zimmer, die Klassen vier bis sechs im anderen. Sie selbst lehrte Staatsbürgerkunde und Mathematik, ich sollte Chinesisch und Musik unterrichten. Vormittags würde sie die höheren Klassen und ich die niedrigeren übernehmen, nachmittags sollte getauscht werden.
    An diesem wie an vielen folgenden Abenden unterhielten wir uns bis tief in die Nacht hinein. Bald verstanden wir uns so gut wie Schwestern. Dongmei war neunzehn und stammte aus Shanghai. Auch ihre Familie war von den Roten Garden terrorisiert worden. Sie war immer gern zur Schule gegangen und träumte davon, eines Tages zu studieren. Aber seit man sie in diese abgelegene Gegend geschickt hatte, war ihr klar, dass sich dieser Traum nie erfüllen würde.
    Ich erzählte ihr von meinem Leben, von Yiping und meiner inneren Zerrissenheit, weil ich ihn einerseits liebte und andererseits die Konsequenzen fürchtete. Sie riet mir, ihm zu schreiben und alles zu erklären. Das versuchte ich auch an so manchem Abend. Aber immer brach ich in so heftige Weinkrämpfe aus, dass ich aufhören musste. Stattdessen wartete ich auf einen Brief von ihm. Es kam keiner. Sollte ich zu
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