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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
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seiner Schule gehen und mit ihm über unsere Beziehung und unsere Zukunft sprechen? Doch ich schreckte vor diesem waghalsigen Schritt zurück, durch den ich mir Schwierigkeiten oder eine Abfuhr einhandeln konnte. Also hieß es harren und hoffen.
    Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Mit einem Stock bewaffnet, um die Schlangen zu verjagen, begann ich in den Bergen zu wandern. Es war so friedlich, ringsum hoher Bambus und Bäume, alles üppig und grün. Dicht über mir zogen Wolken dahin, die Täler drunten lagen im Nebel. Eines Tages entdeckte ich eine einsame Stelle am Rand eines steilen Felshangs. Dort setzte ich mich hin, ließ die Beine baumeln, schaute ins Tal und überließ mich meinem Schmerz.
    Er ist meine wahre Liebe, dachte ich. Niemals werde ich einen anderen lieben. Er ist die Liebe meines Lebens. Der Erste und der Letzte. Ich wusste nicht mehr weiter.
    Als aus den Tagen Wochen wurden, wurde mein Seelenzustand immer düsterer. Warum sollte ich mich nicht den Abhang hinabstürzen, durch die Wolken hindurch auf die Felsen darunter? Wie elend war mein Leben geworden! Ein winziger Schritt, eine kleine Willensanstrengung, mehr brauchte es nicht. Dann war ich endlich frei von diesem Aufruhr der Gefühle und würde Frieden finden.
    An einem Spätnachmittag stand ich am Rand des Abgrunds und starrte hinunter auf den Nebel, das Grün und Grau dieser Welt dort unten. Ich schloss die Augen, nahm allen Mut zusammen und wollte den letzten Schritt tun. Da schrie jemand hinter mir: »Yimao! Halt!«
    Ich riss die Augen auf und trat zurück.
    Dongmei stürzte auf mich zu. »Nicht!«, rief sie und packte meine Hand. »Das Leben ist hart, aber wir müssen es durchstehen«, sagte sie. »Irgendwann werden wir ein besseres Leben haben als das hier. Ich weiß nicht, wie und wann, aber alles wird sich ändern. Das ist nicht das Ende.«
    »Nichts wird sich ändern«, heulte ich.
    »Doch. Glaub mir. Ich habe dasselbe empfunden wie du. Auch ich habe an dieser Stelle gesessen und ins Tal hinabgestarrt. Ich weiß, welche Gedanken dir durch den Kopf gehen.«
    »Ich hasse dieses Leben«, schluchzte ich. »Ich habe es satt. Ich will nicht mehr.«
    In dieser Nacht weinten wir eng umschlungen und schliefen im selben Bett.
    Seither mied ich die Stelle am Abhang, um nicht noch einmal in Versuchung zu geraten. Die Zeit verstrich langsam. Wir unterrichteten, redeten und sangen. Zwar versuchten wir einander aufzumuntern, doch ich blieb weiterhin depressiv. Bald übertrug sich meine Stimmung auf Dongmei, nicht umgekehrt. Ihr Optimismus und ihre Zuversicht schwanden, und meine Düsternis verschattete ihr Gemüt. Sie wurde stiller, saß allein draußen im Dunkeln. Den Unterricht absolvierten wir rein mechanisch, obwohl uns die Kinder tagsüber eine dringend benötigte Ablenkung boten. Die abendlichen Gespräche in unserer Unterkunft wurden seltener. Im Laufe der Zeit ließ Dongmei, ebenso wie ich, alle Hoffnung fahren.
    »Wir werden hier alt werden und sterben«, sagte sie eines Abends zu mir, als wir auf dem Steg saßen und zum Fluss hinabschauten.
    Ich dachte dasselbe.
    »Aber es gibt vielleicht einen Ausweg. Wenn wir in der Partei wären, hätten wir bessere Chancen, nach Hause zu kommen. Parteimitglieder werden bevorzugt.«
    »Wie sollen wir denn Parteimitglieder werden?«, fragte ich. »Mit deiner und meiner Herkunft ist das völlig ausgeschlossen.«
    »Nicht unbedingt«, erwiderte sie. »Wir könnten es zumindest versuchen. Es wäre besser, als hier zu verrotten, oder nicht?«
    »Doch«, pflichtete ich ihr bei.
    »Für Leute mit schlechtem familiärem Hintergrund gibt es zwei Möglichkeiten«, erläuterte sie. »Die eine ist, dass man dem Parteisekretär körbeweise Geschenke bringt. Wenn er genug bekommen hat, befürwortet er die Aufnahme in die Partei und bringt die Akten in Ordnung.«
    »Wir können ihm aber keine großen Geschenke machen«, wandte ich ein. »Geld haben wir auch nicht.«
    »Stimmt«, erwiderte sie lachend. »Aber es gibt noch eine Möglichkeit.« Sie zögerte und blickte mich prüfend an, bevor sie fortfuhr: »Man muss mit dem Parteisekretär schlafen.«
    »Was?« Ich war mir nicht ganz sicher, was sie meinte.
    »Verstehst du nicht?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Du ziehst dich aus, steigst in sein Bett und tust, was ihm gefällt. Und kurz darauf bist du Mitglied der Kommunistischen Partei. Dann schaffst du es vielleicht von hier weg.«
    Ich war entsetzt. »So etwas könnte ich nie tun, Dongmei«, sagte ich.
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