Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
Vom Netzwerk:
»Du?«
    »Ich würde alles tun. Schau dich doch um, Yimao. Sag, würdest du es wirklich nicht tun? Wenn du mal so lange hier gewesen bist wie ich«, meinte sie, »dann siehst du das genauso. Warte es ab.«
    Eine Woche darauf besuchte sie den Parteisekretär, der in einem Dorf etwa dreißig Minuten bergab wohnte. Sie sagte mir, sie wolle dort den Antrag auf Mitgliedschaft ausfüllen. Bevor sie losging, wusch sie sich, lieh sich meine weiße Bluse mit dem Blumenmuster, begutachtete ihr Äußeres im Spiegel und kniff sich in die Wangen, damit sie röter aussahen.
    Ich lag wach und wartete auf sie. Als die Nacht verging, begann ich mir Sorgen zu machen. Ich ging zum Steg, um nachzusehen, ob sie hinabgefallen war. Aber in der Dunkelheit konnte ich nichts erkennen.
    Kurz vor dem Morgengrauen kehrte sie zurück. Und weinte.
    »Was ist passiert?«, fragte ich.
    Doch sie wollte nicht darüber reden und kroch in ihr Bett.
    Am nächsten Abend suchte sie den Parteisekretär erneut auf, ebenso am übernächsten Abend. Jedes Mal kam sie weinend heim.
    Am vierten Abend besuchte sie ihn wieder, kehrte aber schon nach zwei Stunden zurück. Dieses Mal kochte sie vor Wut.
    »Was ist los?«, fragte ich.
    »Dieser Scheißkerl«, sagte sie. »Dieser miese Scheißkerl. Er war mit einem Mädchen aus einem anderen Dorf zusammen. Und er sagte, mein Antrag wurde abgelehnt.«
    »Das tut mir leid.«
    »Dieser Lügner«, schimpfte sie. »Ich hoffe, dass ihn eine Schlange beißt! Ein Tiger soll ihn fressen! Er soll von einer Brücke stürzen! Ein Stein soll ihm auf den Schädel fallen! Jemand soll ihn aufschlitzen!«
    »Was willst du jetzt tun?«, fragte ich.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ich kann nichts mehr tun. Es ist hoffnungslos.«

Kapitel 54
    E ines Tages kamen die Kinder ganz aufgeregt in die Schule und erzählten uns, ein Wahrsager ziehe durch die umliegenden Dörfer. Er könne den Leuten die Zukunft voraussagen.
    Als Dongmei das hörte, drehte sie sich zu mir und sagte: »Zu dem muss ich gehen!«
    »Ich auch!«, erwiderte ich.
    »Wo ist er gerade?«, fragte Dongmei die Schüler.
    »Auf der anderen Seite des Flusses«, antworteten sie. »Wir haben ihn auf dem Weg zur Schule gesehen.«
    Dongmei und ich liefen hinaus und sahen hinter dem Steg die einsame Gestalt. Rasch überquerten wir den Fluss und riefen ihm hinterher. Er drehte sich um und wartete, bis wir näher kamen. Für einen Wahrsager war er erstaunlich jung – etwa Mitte dreißig – und recht gut aussehend. Er hatte große Augen mit einem durchdringenden Blick und einen langen, strähnigen Bart. In der Hand hielt er einen Stock, außerdem trug er sein zusammengerolltes Bettzeug und ein Holzkästchen, das seine Utensilien zum Wahrsagen enthielt.
    Die Kinder waren uns gefolgt und scharten sich um uns.
    »Wir wollen, dass du für uns in die Zukunft schaust«, sagte Dongmei zu dem Mann.
    Er musterte uns kurz. »Fünf Fen«, meinte er dann. »Pro Person.«
    »Gut«, sagte sie. »Das können wir uns leisten.«
    Er setzte sich auf sein Bettzeug, öffnete das Kästchen und nahm einen abgegriffenen Packen alter, fleckiger Spielkarten heraus – sie waren lang und schmal und mit seltsamen Gesichtern und Symbolen bedruckt. Er mischte sie und legte sie behutsam mit der Bildseite nach unten auf den Deckel des Kästchens. Dann sah er Dongmei an. »Lehrerin, wähle drei Karten aus«, forderte er sie auf.
    »Er weiß schon, dass ich Lehrerin bin«, sagte sie aufgeregt zu mir. Sie nahm drei Karten und reichte sie ihm. Er schaute sie an, schloss die Augen und murmelte mit sonorer Stimme ein langes Mantra. Die Kinder, die ihn schon zuvor bei seinem wundersamen Werk beobachtet hatten, flüsterten, dass er jetzt Beistand von den Göttern erhalte.
    Einige Sekunden herrschte Schweigen, dann sprach er: »Ah, ich verstehe. Du bist hier sehr unglücklich. Du kommst von weit her.«
    »Ja, ja«, bestätigte Dongmei. »Aus Shanghai.«
    »Ja, aus Shanghai«, sagte er. »Und du möchtest nach Hause.«
    »Ja, unbedingt. Wann wird es so weit sein?«, fragte sie.
    Der Wahrsager schloss die Augen und schien fernen Stimmen zu lauschen, die nur er hören konnte. Er nickte zustimmend. Schließlich öffnete er die Augen wieder und sah Dongmei unverwandt an. »Du wirst nach Hause kommen.«
    »Wann?«, fragte sie.
    »Bald«, erwiderte er.
    Sie strahlte.
    »Und du wirst nie altern«, fuhr er fort. »Nicht wie ich.«
    »Oh.« Sie seufzte erleichtert auf. »Du bist aber gar nicht alt.«
    »Du wirst nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher