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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
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dass ich Christin war. Doch ich wollte kein Risiko eingehen. Also schloss ich die Augen und bat auch Buddha, meine Vorfahren, den Erdvater, die Erdmutter und den Vorsitzenden Mao um Hilfe. Um sicherzugehen, dass ich Gott nicht beleidigt hatte, ersuchte ich ihn noch ein drittes Mal um Hilfe. Nachdem ich zu jeder mir bekannten Gottheit gebetet hatte, nahm ich meinen Stift, sah mir die Aufgaben an und begann zu schreiben.
    Als wir nach der Prüfung zu unserer Unterkunft zurückkehrten, sprudelte Dongmei schier über vor Begeisterung. Ich hingegen war niedergeschlagen. »Ich weiß, dass ich gut war«, meinte sie lachend. »Das habe ich im Gefühl. Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, auf welche Universität ich gehen will. Ich möchte nach Shanghai zurück. Da ist die Fudan-Universität für mich die erste Wahl. Meine Eltern werden überglücklich sein.«
    Ich war weniger optimistisch, denn die Aufgaben waren schwer gewesen. »Ja, Fudan ist eine gute Wahl«, meinte ich. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt irgendwohin komme.«
    »Nur Mut!«, rief Dongmei. »Wir haben doch zusammen gelernt. Ich weiß, dass du gut warst, Yimao. Bestimmt kommst auch du an die Hochschule deiner Wahl.«
    Als anlässlich des Frühlingsfestes im Januar die Schulferien begannen, hatten wir unsere Prüfungsergebnisse noch nicht erfahren. In der entspannteren Atmosphäre des postmaoistischen Chinas erhielten die gebildeten Jugendlichen längeren Heimaturlaub. Während ich mit meiner Familie den Anbruch des neuen Jahres feierte, traf ein Brief von der Kommune ein. Darin wurde mir mitgeteilt, dass ich dank meiner Prüfungsergebnisse einen Studienplatz an der Lehrerhochschule in Wuhu erhalten würde, an der meine Eltern unterrichteten. Diese Schule war meine dritte Wahl gewesen. Mein Bruder Yiding erhielt den Bescheid, dass er sich ebenfalls für diese Schule qualifiziert habe. So konnten wir nicht nur das Landleben hinter uns lassen, sondern auch nach Hause zurückkehren.
    Wegen dieser erfreulichen Nachricht verweilte ich noch zwei zusätzliche Tage in Wuhu, bevor ich nach Tongxin zurückfuhr. Unterwegs machte ich im Kommunenhauptquartier halt und traf dort ein halbes Dutzend anderer gebildeter Jugendlicher, die auch gerade aus den Ferien zurückkamen und sich mit Vorräten eindeckten. Unter ihnen herrschte eine gedämpfte Stimmung. Wie ich erfuhr, war ich die einzige gebildete Jugendliche der Kommune, die einen Studienplatz ergattert hatte. Das bedeutete, dass Yiping und Dongmei es nicht geschafft hatten. Und da war mein Glück plötzlich nicht mehr so ungetrübt.
    Keiner von den anderen Jugendlichen beglückwünschte mich. Sie verhielten sich mir gegenüber einsilbig und waren damit beschäftigt, sich gegenseitig zu bemitleiden. Da nahm ich eine junge Frau aus einem Nachbardorf beiseite und fragte sie: »Warum schneiden mich alle? Was habe ich denn falsch gemacht?«
    »Du erinnerst uns an unsere geplatzten Träume«, antwortete sie.
    »Das tut mir leid«, sagte ich, und dann: »Ich mache mir Sorgen um Dongmei. Ich muss zu unserer Schule zurück.«
    »Dongmei ist nicht dort«, sagte die Frau.
    »Wo dann?«
    »Als Dongmei gestern ihr Prüfungsergebnis erfahren hat, hat sie sich von einem Berg hinuntergestürzt. Mehrere Dorfbewohner im Tal haben sie fallen sehen.«
    Meine Beine versagten mir den Dienst, und ich sank auf eine Bank. »Ach, Dongmei, Dongmei, Dongmei … nein … nein«, heulte ich. »Dongmei! Warum hast du das getan? Warum war ich nicht da, um dich zu retten?« Die junge Frau versuchte mich zu trösten, während die anderen gebildeten Jugendlichen nur von fern zuschauten.
    Nachdem ich diese Nachricht einigermaßen verkraftet hatte, stieg ich ein letztes Mal den steilen Pfad zur Schule hinauf. Ich erwartete, dass Dongmei mich begrüßte – dass sie nicht mehr am Leben war, wollte ich einfach nicht wahrhaben. Ihre Kleider lagen ordentlich zusammengefaltet auf ihrem Bett. In einer Ecke waren die Lehrbücher gestapelt, mit denen wir zusammen gelernt hatten.
    Ich setzte mich noch einmal aufs Bett und rief ihren Namen, als könnte ich sie so zurückholen. Als ich mich dann erschöpft hinlegte, spürte ich etwas am Gesicht – auf meinem Kissen lag ein Blatt Papier. Eine Seite aus einem der Schreibblöcke, die wir zur Prüfungsvorbereitung benutzt hatten. Darauf stand in Dongmeis Handschrift mein Name.
    Yimao,
    ich habe die gute Nachricht gehört. Meine Glückwünsche. Ich freue mich so für Dich. Erinnerst Du Dich an den
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