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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
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altern«, wiederholte er. »Nicht … wie … ich.«
    »Für immer jung!« Dongmei lachte. »Besser geht’s nicht.«
    Dann nahm ich drei Karten und gab sie ihm. Wieder stimmte er seinen Singsang an und meditierte.
    »Werde ich auch nach Hause kommen?«, fragte ich ihn.
    »Ja, das wirst du, Lehrerin«, antwortete er. Abermals horchte er mit geschlossenen Augen auf die fernen Stimmen, bevor er hinzufügte: »Du jedoch wirst alt werden. Und zwar an einem fernen Ort.«
    Ehe ich etwas auf seine Prophezeiung erwidern konnte, brach Dongmei in Gelächter aus. »Arme Yimao«, rief sie. »Du wirst deine Schönheit verlieren, aber ich nicht.«
    Auch die Kinder lachten und tollten um uns herum.
    Unterdessen ruhte der Blick des Wahrsagers noch immer auf mir. Ich hatte das Gefühl, dass er etwas verschwieg – vielleicht den tieferen Sinn seiner Worte. Was hatte er gesehen? Konnte er wirklich in die Zukunft schauen?
    »Kannst du mir noch mehr sagen?«, fragte ich.
    Da schob er seine Karten zusammen und legte sie zurück in das Kästchen. »Nein«, antwortete er. »Ich darf die tiefsten Geheimnisse der Götter nicht offenbaren. Sonst würde ich meine Gabe verlieren.«
    Wir bezahlten ihn und dankten ihm. Dann gingen wir alle lachend zum Schulhaus zurück. So glücklich hatte ich Dongmei seit Wochen nicht gesehen.
     
    Ein paar Tage nach der Begegnung mit dem Wahrsager wurde bei uns der Reis knapp. Da Dongmei sich nicht wohlfühlte, erbot ich mich, allein zum Kommunenhauptquartier zu gehen und unsere monatliche Ration abzuholen. Dongmei ermahnte mich noch, ich solle mich vor den Schlangen in Acht nehmen. Im Kommunenhauptquartier hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Lautes Stimmengewirr drang an mein Ohr, und alle weinten. Heulend und zitternd kam mir eine Frau entgegen. Ich sprach sie an: »Was ist los? Was ist denn passiert?«
    »Hast du es noch nicht gehört?«, wimmerte sie.
    »Was?«
    »Der Himmel ist herabgestürzt. Unser geliebter Vorsitzender Mao ist in Peking verstorben«, stieß sie hervor, ehe sie zutiefst erschüttert wieder ihrer Wege ging.
    Unter den Menschen herrschte Entsetzen und Orientierungslosigkeit. Niemand konnte es fassen. Viele zweifelten sogar an der Glaubwürdigkeit der Nachricht und behaupteten, das sei unmöglich. Der Vorsitzende Mao tot? Wie konnte das sein? Er sollte doch unsterblich sein. Niemandem war je der Gedanke gekommen, dass er sterben könnte. Mao sollte doch zehntausend Jahre leben! Hatte er wirklich nicht einmal dreiundachtzig Jahre gelebt? Im Laden fiel es mir schwer, jemanden auf mich aufmerksam zu machen. Schließlich gelang es mir aber, achtzehn Kilo Reis zu erstehen, die ich mir auf die Schultern lud, bevor ich auf schnellstem Weg nach Hause ging. Ich blieb kein einziges Mal stehen, um zu rasten, mochten mir auch die Beine schwer werden. Als ich endlich in der Ferne unsere kleine Schule sah, begann mein Puls zu rasen. Ich legte meine Last auf der anderen Seite der Brücke ab und rief: »Dongmei! Dongmei! Gute Nachrichten!«
    Sie trat vor die Tür und schirmte mit der Hand die Augen ab, um mich in der Ferne erkennen zu können. »Was gibt es?«, rief sie zurück.
    »Er ist tot!«, schrie ich. »Der Vorsitzende Mao ist tot! Die Rote Sonne ist untergegangen!«
    Sie lief mir entgegen, wir fielen einander in die Arme und wirbelten lachend herum.
    »Dieser Wahrsager hat recht gehabt«, sagte sie. »Wir werden wirklich nach Hause kommen, Yimao. Genau darauf haben wir gewartet.« Freudentränen liefen uns über die Wangen.
    Wir blieben die ganze Nacht auf, sangen, rezitierten Gedichte und träumten von der Zukunft. Dongmei meinte, wenn sie nach Hause komme, werde sie all ihre Verwandten besuchen und dann ein Studium beginnen. »Ich glaube, ich will Ärztin werden«, sagte sie. »Wie steht’s mit dir?«
    »Ich glaube, ich werde Hochschullehrerin«, antwortete ich. »Professorin für englische Literatur, wie mein Vater. Aber wir dürfen den Kontakt zueinander nicht abreißen lassen, Dongmei. Wir müssen uns wenigstens ein Mal im Jahr treffen, egal, wo wir leben.«
    »Das machen wir«, stimmte sie lachend zu.
     
    Das ganze Land schien eine lange Nacht des Kummers und des Wehklagens zu durchleiden. In jedem Dorf erklang Trauermusik aus den Lautsprechern. Die Menschen weinten in aller Öffentlichkeit. Dongmei und ich hatten die Anweisung erhalten, unsere Schüler zum Kommunenhauptquartier zu bringen, damit sie an der offiziellen Trauerfeier teilnehmen konnten. Wir brachen am frühen Morgen
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