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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
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dass wir keine Chance haben.«
    »Nein«, widersprach ich, »das ist nicht wahr, Yiping.«
    »Schscht«, sagte er beruhigend. »Deine Tante ist eine kluge Frau.«
    Ich sah, wie er um Fassung rang. Aber ich wusste nicht, ob er mir seine wahren Gefühle offenbarte oder nur sagte, was seiner Meinung nach das Beste für mich war.
    »Yiping, was sollen wir tun?«, fragte ich.
    »Was willst du? Was empfindest du?«
    »Ich weiß es nicht.« Nach einer Pause fügte ich kleinlaut hinzu: »Ich tue, was immer du willst.«
    Wieder herrschte langes Schweigen.
    »Ich weiß, was ich will. Aber das ist unmöglich.«
    »Warum ist es unmöglich?«
    »Weil wir nicht den Rest unseres Lebens hier verbringen wollen. Selbst wenn wir ein Paar wären, würden wir daran zerbrechen. Und eines Tages würden wir unseren Entschluss bereuen.«
    »Sag das nicht!«
    »Doch. Es muss gesagt werden. Wir stammen aus schwarzen Familien. Für uns gelten völlig andere Regeln.«
    Ich wusste, dass das die herzzerreißende, unbarmherzige Wahrheit war.
    »Yimao, ich glaube, ich weiß, was du fühlst. Mir geht es genauso. Es ist wie ein Traum. Aber … wir haben schon zu viel geträumt.«
    »Nein, sag das doch nicht«, bat ich.
    »Du kannst nicht einfach abtun, was deine Tante geschrieben hat. Sie hat recht. Deine Eltern haben so viel durchgemacht. Und wir auch.«
    »Wenn wir vielleicht einfach …«, stammelte ich.
    »Wenn wir vielleicht einfach abwarten«, brachte er meinen Satz zu Ende. »Vielleicht ändert sich etwas, und dann …«
    »Meine Gefühle werden sich nie ändern, Yiping«, schluchzte ich. »Niemals.«
    »Meine auch nicht«, beteuerte er. »Aber darum geht es nicht.«
    Er faltete den Brief zusammen und legte ihn neben mir aufs Bett. Dann sah er mir tief in die Augen. »Die Wahrheit ist, Yimao, dass wir alle Federn im Sturm sind. Deine Eltern, meine Eltern, die gebildeten Jugendlichen … und du und ich. Wir können nicht über uns selbst bestimmen. Und das wollten wir nicht wahrhaben. Wenn unsere Träume jemals Wirklichkeit werden sollen, müssen wir einen Schlussstrich ziehen – hier und jetzt.«
    »Nein«, rief ich mit erstickter Stimme, »das kann ich nicht.«
    Er nahm meine Hand, hielt sie ganz fest und schaute mir mit seinem warmherzigen Blick in die Augen. »Vielleicht bin ich stärker als du. Vielleicht bin ich nicht so liebesblind wie du. Ich weiß nicht, woran es liegt. Aber eins weiß ich …« Er ließ meine Hand los, richtete sich auf und wandte den Blick ab. »Vielleicht in einer anderen Zeit …«, begann er wehmütig. »Vielleicht …«
    Er sprach nicht zu Ende. Sondern erhob sich und ging hinaus.
    Am nächsten Morgen stand ich früh auf und packte meine Sachen. Dann riss ich eine Seite aus einem Notizbuch und schrieb darauf ein Gedicht:
    Auch wenn uns tausend Meilen trennen,
    Werden wir doch zusammen uns am selben Mond erfreuen.
    Ich faltete das Blatt zusammen und legte es in die Mitte des Tischs. Auf einen anderen Zettel schrieb ich eine Nachricht für Cuihua mit der Bitte, es Yiping zu geben.
    Beim ersten Hahnenschrei zog ich meine Jacke an. Ich trat vor die Tür und sog tief die kalte Morgenluft ein. Was ich mitnahm, war eine Schachtel mit Büchern, eine Tasche mit Kleidern und ein gebrochenes Herz.

Kapitel 53
    D er Bergpfad zur Brigade Tongxin war steil, kurvenreich und gefährlich. Als ich das dunstige Luo hinter mir gelassen hatte, hörte ich von weit unten das tiefe Knurren des Tigers in seinem Käfig. Das erstaunte mich. Ich hatte angenommen, die Dorfbewohner hätten ihn mittlerweile getötet.
    Immer wieder drehte ich mich um und spähte in die Richtung von Yipings Dorf. Doch bald versank es hinter mir im morgendlichen Nebel. Der Weg verengte sich und wand sich an einem tiefen Abgrund entlang. Je höher ich aufstieg, umso spärlicher wurde der Baum- und Bambusbewuchs. Vögel sangen. Am Wegesrand befand sich ein alter Rastplatz mit einem kleinen Unterstand. Er war schrecklich heruntergekommen, aber immerhin gab es eine Steinbank zum Sitzen. Frühere Reisende hatten ihre Namen und Gedanken in den Stein geritzt. Ich las einige der Namen und die kurzen Gedichte. Anscheinend stammten die meisten von Rotgardisten, die den Vorsitzenden Mao dafür priesen, dass er ihnen Kraft und einen Sinn im Leben, ja das Leben selbst geschenkt hatte.
    Bei meinem Aufstieg hielt ich immer wieder Ausschau nach dem Dorf Tongxin. Endlich entdeckte ich in der Ferne ein einzelnes Gebäude auf einem terrassierten Plateau. Etliche Dutzend
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