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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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ihre jedoch besaß eine üppigere, faszinie-rendere Färbung. Sie blätterte ungeduldig durch die alten Noten, um jene Arien herauszusuchen, die er kürzlich gelernt hatte, und er mußte sich dann eine Melodie dazu ausdenken.
    »Du bist im Nachahmen perfekt!« sagte sie immer, wenn er einer komplizierten Passage fehlerlos gefolgt war. Oft ließ sie einen Ton langsam und gekonnt anschwellen, nur um dann zu lauschen, wie er ein makelloses Echo sang. Dann packte sie ihn plötzlich mit ihren warmen und sehr kräftigen Händen und flüsterte: »Liebst du mich?«
    »Natürlich liebe ich dich. Das habe ich dir gestern schon gesagt, und vorgestern auch, aber du vergißt es immer wieder«, neckte er sie. Sie stieß einen ergreifenden, seelenvollen Schrei aus. Sie biß sich auf die Lippen, ihre Augen wurden ungewöhnlich weit, dann wieder schmal. Und er gab ihr dann stets, was sie wollte. Aber innerlich litt er.

    Jeden Morgen, wenn er die Augen aufschlug, wußte er, ob sie froh oder traurig war. Er konnte es spüren. Und er berechnete seine Unterrichtsstunden danach, wie lange es noch dauerte, bis er davonschlüpfen konnte, um bei ihr zu sein.

    Aber er verstand sie nicht.
    Allmählich erkannte er, daß er sein einsames Leben als Kind, die Stille und Leere in den Zimmern des riesigen und düsteren Palazzos ebensosehr der Scheu und Zurückgezogenheit seiner Mutter wie dem Alter und der altmodischen Strenge seines Vaters zu verdanken hatte.
    Warum eigentlich hatte sie keine Freunde? In der Pietà waren doch sowohl Damen von Stand wie auch Findelkinder untergebracht gewesen, und viele von ihnen hatten in gute Familien eingeheiratet.
    Aber sie sprach niemals von diesem Ort. Sie ging niemals aus.
    Wenn die Cousine seines Vaters, Catrina Lisani, zu ihnen kam, dann waren dies, wie Tonio wußte, nur kurze Höflich-keitsbesuche. Marianna wirkte wie eine Nonne hinter einem vergitterten Klosterfenster. Sie trug Schwarz, die Hände ruhten in ihrem Schoß, das dunkle Haar war glattgekämmt. Catrina in ihrem farbenfrohen Kleid aus bedruckter Seide, das mit einer Unzahl gelber Schleifen verziert war, mußte die gesamte Unterhaltung bestreiten.
    Manchmal hatte Catrina ihren »Begleiter«, einen sehr anständigen und hübschen Cavaliere servente, dabei. Gelegentlich kam auch ein entfernter Cousin mit, bei dem Tonio sich allerdings nicht entsinnen konnte, in welcher verwandtschaftlichen Beziehung die beiden genau zueinander standen. Aber es bedeutete für Tonio stets eine vergnügliche Abwechslung, wenn dieser Cousin zu Besuch kam, denn er spazierte mit Tonio hinaus in den Großen Salon und plauderte darüber, was in den Zeitungen stand und was sich am Theater ereignete. Er trug Schuhe mit roten Absätzen und ein Monokel an einem blauen Band.
    Obwohl dieser Mann Patrizier war, hatte er sich dem Müßiggang verschrieben und verbrachte seine Zeit in der Gesellschaft von Frauen. Tonio wußte, daß Andrea es nicht gut-geheißen hätte, und er selbst billigte es ebenfalls nicht.
    Dennoch aber glaubte er, daß Marianna, wenn sie einen Begleiter gehabt hätte, ausgehen würde, andere Menschen kennenlernen würde, Menschen, die ab und zu auch zu ihr zu Besuch kommen würden. Seine ganze Welt hätte sich dann verändert.
    »Wenn ich nur ihr Cavaliere servente sein könnte ...« Er seufzte und blickte in den Spiegel, wo er einen hochgewachsenen jungen Mann mit dem Gesicht eines Jungen sah. »Warum kann ich sie nicht beschützen?« flüsterte er. »Warum kann ich sie nicht retten!«

    6

    Was aber macht man mit einer Frau, die sich immer öfter mit ihrer Weinflasche ins Bett verkriecht?
    Unpäßlichkeit! Melancholie! So nannte man diesen Zustand.
    Als Tonio vierzehn war, stand Marianna immer erst am Spätnachmittag auf. Oft war sie »zu müde«, um zu singen. Er war froh, wenn sie das sagte, denn der Anblick, den sie bot, wenn sie im Zimmer herumtaumelte, war unerträglich. Sie war meistens vernünftig genug und blieb im Bett, um dann, gegen einen Stapel Kopfkissen gelehnt, mit ausgezehrtem Gesicht und hervortretenden, glasigen Augen zuzuhören, wie Tonio ihr etwas auf dem Cembalo vorspielte.
    Wenn es dämmrig wurde, war sie oft streitlustig und absonder-lich. Natürlich wollte sie nicht zur Pietà gehen. Warum sollte sie denn dorthin gehen wollen? »Weißt du«, sagte sie eines Abends, »daß mich damals alle gekannt haben? In ganz Venedig hat man von mir gesprochen. Die Gondolieri sagten, ich wäre von allen vier Musikschulen die beste Sängerin, die
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