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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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vernachlässigten Zimmern des untersten Stockwerks zu entfliehen, wo ihn niemand fand.
    Manchmal blätterte er dort, eine Kerze in der Hand, in den schweren Bänden des Archivs und staunte über die dort angehäuften, vermodernden Berichte über seine Familienge-schichte. Selbst die schlichten Fakten und Daten auf jenen Seiten, die bedenklich knisterten, wenn er sie berührte, entzündeten seine Phantasie: Er würde zur See gehen, wenn er erwachsen war, er würde die purpurne Robe eines Senators tragen. Selbst der Amtsstuhl des Dogen lag nicht außerhalb der Reichweite eines Treschi.
    Eine dumpfe Erregung durchströmte seine Adern, und er setzte seine Streifzüge fort. Er versuchte Riegel zu öffnen, die seit Jahren niemand mehr berührt hatte, hob uralte Bilder aus ihren feuchten Ecken, um in fremde Gesichter zu spähen. Die alten Vorratsräume hier rochen immer noch nach den Gewürzen, die die Händler einst aus dem Orient mitgebracht hatten, als die Boote noch direkt vor dem Palazzo anlegten und ein Vermögen an Teppichen, Juwelen, Zimt und Seide abluden.
    Dort lag, immer noch zusammengerollt, ein feuchtes Hanfseil, hier waren Strohhalme verstreut. Und in der Luft hing ein pikantes und verlockendes Duftgemisch.
    Von Zeit zu Zeit hielt er inne. Seine kleine, gespenstische Kerzenflamme tanzte unruhig im Zugwind. Er konnte das Wasser unter dem Haus hören, das dumpfe Knarren der Stützpfähle.
    Wenn er die Augen schloß, dann hörte er weit über sich auch seine Mutter nach ihm rufen.
    Hier war er jedoch vor jedermann sicher. Spinnen schlichen auf Zehenspitzen übers Gebälk, und mit einer plötzlichen Wendung seiner Kerze ließ er ein Gespinst erscheinen, kompliziert und golden. Ein kaputter Fensterladen gab unter seiner Berührung nach, das graue Licht des Nachmittags fiel schmutzig durch vergitterte Scheiben. Als er hinausspähte, sah er die Ratten gemächlich durch den Abfall schwimmen, der im trägen Wasser trieb.
    Er war traurig. Er hatte Angst. Plötzlich überkam ihn eine Trübsal, die er nicht benennen konnte, eine Furcht, die alle Dinge ringsum des Wunderbaren beraubte.
    Sein Vater war so alt. Seine Mutter war so jung. Hinter all dem schien irgendein unbekannter Schrecken zu stehen, der auf ihn wartete. Wovor fürchtete er sich nur? Er wußte es nicht.
    Dennoch schien es ihm, als wäre die Luft, die ihn umgab, mit Geheimnissen geschwängert. Manchmal war da ein geflüsterter Name, der anschließend geleugnet wurde, manchmal glaubte er, die Diener untereinander auf irgendeinen vergangenen Konflikt anspielen gehört zu haben. Er war sich nicht ganz sicher.
    Vielleicht aber war es am Ende nur, daß seine Mutter so un-glücklich war!

    4

    Da Guido nun für die Bühne ausgewählt worden war, bedeutete das, daß er von jetzt an hart arbeiten mußte. Abend für Abend war er nun in der schwindelerregenden Pracht des Opernhauses zu finden, wo er alles genau studierte und im Chor mitsang, wenn es einen gab. Wenn er das Theater dann schließlich wieder verließ, hatte er noch den Applaus in den Ohren und den Duft von Parfüm und Puder in der Nase.
    Diese Jahre waren so wunderbar intensiv, daß sich Guido nicht einmal von seinem Weg abbringen ließ, als er spürte, daß in ihm die Leidenschaft zu erwachen begann.
    Dabei hatte er sich schon längst damit abgefunden, daß er keine Leidenschaft empfinden konnte.

    Das zölibatäre Leben zog ihn in der Tat an. Er glaubte das, was ihm gepredigt wurde. Da die Ehe dazu bestimmt war, Kinder zu zeugen, würde er als Eunuch niemals die Erlaubnis bekommen, zu heiraten. Noch nie hatte der Papst einem Kastraten einen Dispens erteilt. Also würde er wie ein Priester leben, das war die einzige rechtschaffene und anständige Lebensweise, die ihm erlaubt war.
    Da er die Eunuchen als die Hohepriester der Musik betrachtete, akzeptierte er das voll und ganz. Wenn er einmal einen Augenblick darüber nachdachte, welches Opfer er für diese Priesterschaft dargebracht hatte, dann geschah dies in der stillen Überzeugung, daß er das Ausmaß dessen sowieso niemals verstehen würde.
    Was bedeutet mir das schon, dachte er achselzuckend. Er besaß einen eisernen Willen, und allein das Singen zählte für ihn.
    Eines Nachts aber hatte er, nachdem er spät aus dem Theater nach Hause gekommen war, einen gespenstischen Traum. Er träumte, er würde eine Frau, die er auf der Bühne gesehen hatte, eine mollige kleine Sängerin, liebkosen. Es waren ihre nackten Schultern, die er in diesem Traum sah,
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