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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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da, beim Abendessen, im Ballsaal, und wenn er seinen jüngsten Sohn sah, dann schloß er ihn in die Arme und überhäufte ihn spontan mit Küssen.

    In Wirklichkeit verhielt es sich jedoch so, daß Tonio seinen Vater nur selten zu Gesicht bekam.

    Aber wenn Lena hin und wieder zu ihm kam und ihm ängstlich zuflüsterte, daß Andrea nach seinem Sohn geschickt habe, war das etwas absolut Wunderbares. Sie zog ihm dann immer seine besten Sachen an, den Rock aus rostfarbenem Samt, den er so liebte, manchmal auch den dunkelblauen, der das Lieblingsstück seiner Mutter war. Wenn sie sein Haar gebürstet hatte, bis es glänzte, ließ sie es, ohne es mit einem Band zusammenzunehmen, weich auf die Schultern herabfallen. Er protestierte dann stets, daß er mit dieser Frisur ja wie ein Kleinkind aussähe. Aber schon brachte man ihm die juwelenbesetzten Ringe, den pelzgefütterten Umhang und seinen eigenen kleinen Degen, der mit Rubinen geschmückt war. Jetzt war er bereit. Seine Absätze machten auf dem Marmorboden ein köstlich klapperndes Geräusch.
    Stets war der Große Salon im Hauptgeschoß der Schauplatz.
    Der riesige Raum war lediglich mit einem langen reichge-schnitzten Tisch ausgestattet. Drei Männer hätten der Länge nach darauf Platz gehabt. Auf dem Boden befand sich ein Muster aus buntem Marmor, das eine Weltkarte darstellte, während sich an der Decke ein endloser Ausblick in eine blaue Weite bot, in der Engel schwebten, die gerade ein gewundenes Schriftband mit lateinischer Aufschrift entrollten. Im Gro-
    ßen Salon herrschten ungleichmäßige Lichtverhältnisse, da auch durch die offenen Türen der angrenzenden Zimmer Licht in den Raum fiel, häufig jedoch war der Salon auch von den warmen Strahlen der Morgensonne erfüllt, die die dünne, fast geisterhafte Gestalt von Andrea Treschi beschienen.
    Tonio pflegte dann seine Verbeugung zu machen. Wenn er wieder aufblickte, sah er jedesmal die eindrucksvolle Vitalität im Blick seines Vaters. In seinen Augen, die so jung waren, daß sie gar nicht zu dem skelettähnlichen Gesicht zu gehören schienen, glänzten ununterdrückbarer Stolz und Liebe.
    Andrea bückte sich zu seinem Sohn hinunter, um ihn zu küssen. Sein Kuß war puderweich und geräuschlos, und seine Lippen verweilten dabei auf Tonios Wange.
    Seine Diener standen dabei. Sie lächelten, sie zwinkerten.
    Durch das Zimmer schien eine Welle sanfter Erregung zu gehen. Dann war es vorbei. Tonio, der oben im Zimmer seiner Mutter zum Fenster gestürzt war, sah zu, wie die Gondel seines Vaters den Kanal hinunterfuhr, auf die Piazetta zu.
    Niemand mußte Tonio sagen, daß er der letzte seines Geschlechts war. Der Tod hatte in allen Zweigen dieser großen Familie eine solche Verwüstung angerichtet, daß nicht einmal ein Cousin übriggeblieben war, der den Namen Treschi trug.
    Tonio »würde früh heiraten«, er mußte sich auf ein von Pflichten bestimmtes Leben vorbereiten. Und in jenen wenigen Nächten, wenn er einmal krank war, schauderte es ihn, wenn er das Gesicht seines Vaters in der Tür erscheinen sah: die Zukunft der Treschi stand und fiel mit ihm.

    Aber der Palazzo Treschi war nicht nur sein Zuhause, er war auch sein Gefängnis. Seine Hauslehrer ließen ihm, wenn möglich, keine Ruhe. Beppo, der alte Kastrat, der schon vor langer Zeit seine Stimme verloren hatte, unterrichtete ihn in Franzö-
    sisch, Poesie und im Kontrapunkt, während Angelo, der junge und ernste Priester mit dem dunklen Haar und dem schmächtigen Körperbau, ihn in Latein, Italienisch und Englisch unterwies.
    Zweimal die Woche kam der Fechtmeister. Tonio lernte bei ihm, wie man richtig mit dem Degen umging, mehr zum Spaß, so schien es, als mit dem Ziel, die Waffe jemals ernsthaft zu gebrauchen.
    Und dann war da noch der ballerino, ein reizender Franzose, der ihm die zierlichen Tanzschritte von Menuett und Quadrille beibrachte, während Beppo dem Cembalo die dazu passende festliche Musik entlockte. Tonio mußte lernen, wie man einer Dame die Hand küßte, wann und wie man sich verbeugte und alles, was sonst noch zum feinen Benehmen gehörte.
    Das Ganze machte ihm durchaus Spaß. Wenn er allein war, zerteilte er manchmal die Luft mit seiner Degenklinge oder tanzte mit imaginären Mädchen, deren wunderschönes Bild er sich aus all jenen zusammensetzte, die er von Zeit zu Zeit in den engen calli sah.
    Aber abgesehen von den kirchlichen Festen und der Sonn-tagsmesse bestand Tonios einzige Ablenkung darin, in die Eingeweide des Hauses zu den
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