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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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jemanden zu verhaften, vor Gericht zu stellen, ihn zu verurteilen und den Urteilsspruch auszuführen - selbst wenn es sich um ein To-desurteil handelte.
    Mit anderen Worten, Tonios Vater gehörte zu jenen, die mächtiger als der Doge selbst waren.
    Der Name Treschi stand schon seit einem Jahrtausend im Goldenen Buch der Stadt. Die Treschi waren eine Familie von Admirälen, Botschaftern, Prokuratoren von San Marco und Senatoren, zu zahlreich, um sie einzeln zu erwähnen. Drei Brüder von Tonio, alle seit langem tot - die Kinder der ersten Frau seines Vaters, die ebenfalls gestorben war -, hatten in höchsten Ämtern gedient.
    Mit seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag würde Tonio ge-wiß seinen Platz unter jenen jungen Staatsmännern einnehmen, die auf jenem langen Stück Piazzetta vor dem Dogenpalast spazierengingen, das Broglio genannt wurde.
    Davor würde er die Universität von Padua besuchen, zwei Jahre auf See verbringen, vielleicht eine Weltreise machen.
    Gegenwärtig aber würde er viele Stunden in der Bibliothek des Palazzo unter der freundlichen, aber strengen Aufsicht seiner Hauslehrer verbringen.

    Porträts hingen an den Wänden des Palazzo. Schwarzhaarige Treschi mit heller Haut waren darauf zu sehen. Männer, alle vom selben Schlag, mit feinem Knochenbau, aber hochgewachsen, mit breiter Stirn, die sich in einem dichten Haarschopf fortsetzte. Selbst als kleinem Jungen war Tonio schon aufgefallen, daß er einigen von ihnen stärker ähnelte als anderen. Da hingen sie, verstorbene Onkel, Cousins, seine Brüder: Leonardo, der in einem Zimmer im Obergeschoß an Schwindsucht gestorben war, Giambattista, der vor der griechischen Küste ertrunken war, Philippo, der in irgendeinem entfernten Außenposten des Reiches der Malaria zum Opfer gefallen war. Zwischendrin tauchte immer wieder ein junger Mann auf, der Tonio wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Dieser junge Mann spähte immer nur aus großen Gruppen prächtig gekleideter Männer hervor, war auf Bildern zu finden, auf denen ein jüngerer Andrea, umringt von seinen Brüdern und Neffen, zu sehen war. Aber es war schwierig, einem jeden Gesicht einen Namen zuzuordnen, die vielen abgebildeten Personen voneinander zu unterscheiden.
    In dem langgestreckten Speisezimmer aber spähten aus dem größten der vergoldeten Rahmen alle drei Söhne mit ihrem Vater und dessen melancholischer erster Frau herab.
    »Sie beobachten dich«, neckte ihn Lena, Tonios Amme, die weniger Tonios Amme als die Amme von Tonios Mutter Marianna war. Sie war alt, aber stets gut gelaunt und hatte nur einen Scherz machen wollen. Sie konnte nicht ahnen, wie weh es ihm tat, diese Versammlung rotbackiger und so lebensecht wirkender Gesichter anzusehen. Er wünschte sich, seine Brü-
    der wären noch am Leben, er wollte sie hier bei sich haben, und er wollte, wenn er die Tür zu einem Zimmer öffnete, dahinter fröhliches Lachen und Bewegung finden. Manchmal stellte er sich vor, wie es sein würde, wenn seine Brüder mit an dem langen Eßtisch säßen.
    Mit der Zeit wurde ihm allerdings klar, daß dieses kleine Spiel etwas Absurdes an sich hatte. Es machte ihm nämlich ungeheuer angst. Man hatte ihm, lange bevor er die volle Bedeutung einer solchen Aussage ermessen konnte, gesagt, daß nur ein einziger Sohn in einer großen venezianischen Familie heiraten durfte. Es war eine Sitte, die so alt war, daß sie inzwischen den Charakter eines Gesetzes angenommen hatte.
    Damals war das Philippo gewesen, dessen Frau, da die Ehe kinderlos geblieben war, nach seinem Tod wieder zu ihrer eigenen Familie zurückgekehrt war. Wenn jedoch irgendeiner dieser Schatten auf dem Bild lang genug gelebt hätte, um einen Sohn zu zeugen, dann säße Tonio jetzt nicht hier! Sein Vater hätte dann niemals eine zweite Frau genommen, und Tonio wäre nicht geboren worden. Also lebte er nur deshalb, weil der Tod seine Brüder dahingerafft hatte, bevor sie für Nachkommenschaft hatten sorgen können. Das war der Preis für sein Leben.
    Anfangs konnte er das nicht begreifen, nach einer Weile jedoch war es eine vertraute Wahrheit für ihn geworden. Ihm und jenen Brüdern war es niemals bestimmt gewesen, einander kennenzulernen. Dennoch spann er in seiner Phantasie diese Gedanken weiter aus. Er sah die gähnend leeren Zimmer hell erleuchtet, hörte Musik, stellte sich vor, wie er von freundlichen Männern und Frauen umringt wurde, die seine Verwandten waren, einer Schar namenloser Cousins und Cousinen.
    Und stets war sein Vater
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