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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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loszureißen. Da aber hörte er eine sanfte, tröstende Stimme an seinem Ohr, die ihn freundlich schalt: »Aber Guido, Guido.«
    Das alles vergaß er nie.
    In jener Nacht erwachte er auf schneeweißen Laken, die nach zerstoßenen grünen Blättern rochen. Als er trotz der kleinen bandagierten Wunde zwischen seinen Beinen aus dem Bett kletterte, stand er plötzlich vor einem Spiegel, in dem ein kleiner Junge zu sehen war. Sofort war ihm klar, daß das sein eigenes Spiegelbild sein mußte, das er bislang nur in stillem Wasser hatte betrachten können. Er sah sein lockiges, dunkles Haar und betastete sein Gesicht, vor allem seine flache, kleine Nase, die ihm wie ein Stück feuchter Ton vorkam.
    Der Mann, der ihn vor dem Spiegel fand, bestrafte ihn nicht, sondern gab ihm mit einem silbernen Löffel Suppe zu essen, während er in einer fremden Sprache beruhigend auf ihn einredete. An den Wänden hingen kleine, bunte Bilder. Auf ihnen waren, als die Sonne aufging, lauter Gesichter zu erkennen.
    Auf dem Boden vor dem Bett sah Guido ein Paar feiner, schwarz glänzender Lederschuhe stehen, die so klein waren, daß sie ihm wie angegossen paßten. Da wußte er, daß man sie ihm schenken würde.

    Man schrieb das Jahr 1715. Der französische Sonnenkönig, Ludwig XIV., war gerade gestorben. Peter der Große herrschte als Zar von Rußland.
    Benjamin Franklin war gerade neun Jahre alt. George I. hatte soeben den Thron von England bestiegen.
    Sklaven aus Afrika pflügten zu beiden Seiten des Äquators die Felder der Neuen Welt. In London konnte man gehängt werden, wenn man einen Laib Brot stahl. In Portugal konnte man wegen Ketzerei bei lebendigem Leib verbrannt werden.
    Die Herren setzten sich, wenn sie ausgingen, große weiße Perücken auf. Sie trugen Degen und schnupften Schnupftabak, den sie mit spitzen Fingern aus edelsteinbesetzten Döschen nahmen. Sie trugen Hosen, die in Kniehöhe mit einer Spange geschlossen wurden, dazu Strümpfe und Schuhe mit hohem Absatz. Ihre Jacken hatten riesige Taschen. Damen in gerüschten Korsetts klebten sich Schönheitspflästerchen auf die Wangen. Sie tanzten in Reifröcken Menuett, unterhielten Salons, verliebten sich, begingen Ehebruch.
    Mozarts Vater war noch nicht geboren. Johann Sebastian Bach war gerade dreißig geworden. Galileo war schon seit dreiundsiebzig Jahren tot. Isaac Newton war ein alter Mann, Jean Jacques Rousseau ein kleines Kind.
    Die italienische Oper hatte die Welt erobert. Neapel sollte in diesem Jahr die Uraufführung von Alessandro Scarlattis Il Tigrane erleben, Venedig die von Vivaldis Narone fatta Ce-sare. Georg Friedrich Händel war der meistgefeierte Komponist in London.
    Auf der sonnigen italienischen Halbinsel waren fremde Herrscher eingefallen. Der Erzherzog von Österreich herrschte im Norden über die Stadt Mailand, im Süden über das Königreich Neapel.

    Guido jedoch wußte nichts von der Welt. Er sprach nicht einmal die Sprache seines Heimatlandes.
    Die Stadt Neapel war das Wunderbarste, was er jemals gesehen hatte, und das Conservatorio, in das man ihn brachte und von dem aus man auf die Stadt und das Meer blicken konnte, erschien ihm so prächtig wie ein Palazzo.
    Der schwarze Anzug mit der roten Schärpe, den man ihn an-zuziehen hieß, war aus allerfeinstem Tuch gefertigt. Er konnte kaum glauben, daß er hier an diesem Ort bleiben sollte, um für immer zu singen und zu musizieren. Nein, eines Tages würde man ihn gewiß nach Hause schicken.
    Aber das geschah nie.
    An Festtagen, wenn er in der schwülen Nachmittagshitze mit den anderen kastrierten Jungen in langsamer Prozession durch die überfüllten Straßen schritt, sein Rock tadellos, die braunen Locken gewaschen und glänzend, da war er stolz, einer von ihnen zu sein. Ihre Lobgesänge schwebten, dem Duft der Lilien und der Kerzen gleich, in der Luft. Als sie dann die hochragende Kirche betraten und ihre Knabenstimmen laut inmitten einer Pracht erschollen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, da erlebte Guido zum ersten Mal ein echtes Glücksgefühl.

    Jahrelang lief für ihn alles bestens. Die Ausbildung im Conservatorio fiel ihm leicht. Er hatte einen Sopran, mit dem er Glas zerspringen lassen konnte, er schrieb Melodien nieder, wann immer man ihm einen Stift in die Hand gab, und er lernte zu komponieren, bevor er lesen und schreiben konnte. Seine Lehrer liebten ihn.
    Mit der Zeit jedoch begann er mehr und mehr zu verstehen.
    Bald erkannte Guido, daß nicht alle Musiker in seiner Umgebung als
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