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Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit
Autoren: Walter Mosley
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dem jüngeren erklären, wie es läuft, doch das war bei den beiden nicht der Fall. Twill war die Reinkarnation einer alten Seele, die ein Leben nach dem anderen im Gefängnis oder auf der Flucht zugebracht hatte.
    In letzter Zeit organisierte mein jüngster und liebster Sohn irgendeine Online-Hehlerei. Er sprach und traf sich mit niemandem, während sein elektronisches Portemonnaie prall gefüllt war mit Überweisungen von einem Dutzend verschiedener Käufer und Provider.
    Ich suchte nach Möglichkeiten, sein illegales Unternehmen kurzzuschließen, doch bisher hatte ich noch kein schwaches Glied in der Kette gefunden.
    Dass beide meiner Jungs durch dieses spezielle Geschäft in Schwierigkeiten geraten waren, konnte ich mir allerdings nicht vorstellen.
    »Es ist okay, Baby«, sagte ich zu meiner Frau.
    Sie schniefte, und ich fragte mich, ob sie einen Hauch von meiner Knutscherei gewittert hatte.
    »Ich mach mir Sorgen, Leonid.«
    »Du kennst doch Twill. Wahrscheinlich hat er ein Mädchen kennengelernt, das für ein oder zwei Nächte einen College-Studenten will. Das ist das Einzige, was Dimitri von hier fernhalten würde.«
    »Glaubst du?«
    »Ich bin mir sicher. Morgen früh rufen sie an, wahrscheinlich mich, weil sie solche Angst vor dir haben.«
    Ich sah, wie sich die Spannung in ihrem Gesicht und ihren Schultern löste.
    »Warum machst du dir solche Sorgen?«, fragte ich.
    »Ich weiß nicht. Vielleicht hab ich bloß ein schlechtes Gewissen.«
    »Ein schlechtes Gewissen? Weswegen?«
    »Weil ich mich nicht gut genug um unsere Kinder kümmere.«
    »Kinder? Dimitri ist zweiundzwanzig, und du weißt, dass Twill nie ein Kind war.«
    Da lächelte Katrina und ließ auch die letzten ihrer Ängste los.
    »Geh ins Bett, Schatz«, sagte ich. »Geh ins Bett, morgen früh hören wir bestimmt von den Jungs.«

7
    In meiner Kemenate (die mir bisweilen auch als Büro dient) gibt es drei wichtige Einrichtungsgegenstände. Einer ist der große schwarze Schreibtisch, an dem ich lese und hin und wieder über mein Leben grübele. An der ansonsten weißen Wand gegenüber hängt ein kleines Ölgemälde mit dem Titel Der entfremdete Mensch von dem genialen Paul Klee. Ich hatte es erst vor kurzem von einer jungen Frau geschenkt bekommen, die mich, besser als mein kommunistischer Vater es je konnte, gelehrt hatte, dass Reichtum vor allem eine Illusion ist.
    Unter dem Fenster steht ein Schlafsofa. Auf dem saß ich eine Weile und blickte auf den dunklen Streifen, der, wie ich wusste, der mächtige Hudson River war.
    Dort in der Dunkelheit sitzend erlebte ich eine Wieder-Offenbarung: Ich wollte das Leben nicht, das ich lebte; ich hatte es nie gewollt. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr zu Hause in Hegel, Marx und Bakunin geschult und danach ein Mündel des Staates, war es mit mir stetig bergab gegangen.
    Ich gab mich dem Selbstmitleid nicht länger als drei Minuten hin. In den frühen Morgenstunden, wenn einen niemand sieht oder hört, sind hundertachtzig Sekunden nicht übel.
    Eine Weile dachte ich an die Frauen, die meine Nächte bevölkerten: Katrina, die glaubte, erwachsene Liebe sei entweder Schönheit und Reichtum oder eine Willensanstrengung; Lucy, die bereitwilliger war, als ich es jegewesen bin; Wanda Soa, die tot war, und eine Frau namens Tara, die verschwunden oder vielleicht doch Wanda Soa und damit zwei Mal tot war. Das hätte jedem Mann gereicht. Doch all diese Frauen interessierten mich nicht. Mich kümmerte nur Aura Ullman mit ihren nordischen Augen, ihrer äthiopischen Haut und ihrem tiefen Verständnis dafür, was es bedeutete, unter einem gesetzlosen Stern zu leben.
     
    Ich konnte mich nicht erinnern, mich auf das Sofa gelegt zu haben, geschweige denn eingeschlafen zu sein. Doch vor Sonnenaufgang war ich wieder wach. Die Jungen waren nicht nach Hause gekommen – sonst hätte ich Dimitris Gepolter gehört.
    Ich trug immer noch den gelben Anzug.
    Ich zog ihn aus und hängte das hässliche Stück auf einen Kleiderständer neben der Tür. Dann zog ich einen karierten Bademantel an, der älter war als Dimitri, und ging nach unten, um kalt zu duschen.
    Ich begann jeden Fall mit einer kalten Dusche. Meiner Erfahrung nach dämpft es meine depressive Stimmung und ersetzt den Schlaf, den ich fast jede Nacht versäume. Es schmerzt bis auf die Knochen, doch ich schreie nur selten. Ich zittere bloß wie ein nasser Hund und beiße die Zähne so fest zusammen, dass ich den Daumen eines Muskelmanns aus dem Zirkus durchbeißen könnte.
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