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Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit
Autoren: Walter Mosley
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Danach scheint nichts mehr so schlimm oder unüberwindlich.
    Wie Gordo mir immer erklärt hat: »Leben ist Schmerz … wenn du ihm nicht zuvorkommst.«
     
    Wir wohnen in der West 91 st Street. Mein Büro ist ein paar Meilen weiter südlich in der 39 th Street zwischen 6 th und 7 th Avenue. Meistens gehe ich zu Fuß – um aus dem Haus zu kommen, bevor die falsche Häuslichkeit mich erstickt. Außerdem habe ich festgestellt, dass ich gut denken kann, wenn ich durch die Straßen laufe, in denen ich erwachsen geworden bin.
    Die Novembersonne drohte gerade aufzugehen, als ich – wieder in meinem gelben Anzug – auf den Broadway einbog. Die obdachlosen Bewohner der Nacht waren noch auf den Beinen und durchwühlten den Müll vom Vorabend auf der Suche nach Pfandflaschen, nur halb gerauchten Zigaretten und vereinzelten Münzen.
    »Hey, Bruder«, begrüßte mich ein rüstiger Schwarzer in grauen Lumpen an der Ecke 63 rd Street und Amsterdam Avenue. Die Straße hatte seinen Körper gestählt – und seinen Verstand weich gekocht.
    Ich nickte ihm im Vorbeigehen zu.
    »Du weißt, dass sie kommen, oder?«, fragte er.
    »Wer kommt?«, fragte ich und verlangsamte meine Schritte.
    »Regierungsagenten mit Waffen und falscher schwarzer Haut. Sie nehmen Weiße und benutzen Tätowierfarbe, damit sie aussehen wie wir, weißt du. Und dann lassen sie sie mit ihren Knarren auf unseren Straßen los und sagen, wir wären es selber gewesen.«
    »Ja«, sagte ich. »Und manchmal brauchen sie nicht mal Tätowierfarbe.«
    Der Gossenmessias strahlte mich an. Seine Zähne waren komplett vorhanden, gesund, kräftig und von einem angegilbten Elfenbeinton. Ich steckte ihm zwanzig Dollar zu und ging weiter meines eigenen fehlgeleiteten Weges.
     
    Die Lektionen meines Vaters waren, solange er da war, gute Lektionen gewesen. Er war ein gebildeter Mann, obwohl er in der Hütte eines Farmpächters in Alabama zur Welt gekommen war. Als Autodidakt betrachtete er Wissen aus der Perspektive eines Außenseiters.
    »Die Leute in der Partei werden dir sagen, dass du Sigmund Freud ignorieren sollst«, erklärte er mir, einem zehnjährigen Jungen, einmal. »Sie sagen, er sei nicht mehr als ein bourgeoiser Apologet. Das Problem ist bloß, dass er mit einer Menge von dem, was er sagt, recht hat. Der ganze Kram über Sex und die Kernfamilie ist größtenteils Unsinn. Aber wenn er über das Unbewusste spricht, musst du zuhören. Man muss nur auf die Straße gehen, um zu sehen, dass die meisten Menschen nicht wissen, was sie tun oder warum. Das Bewusstsein ist bestimmt von der ökonomischen Basis der Gesellschaft, aber es lebt. Bilanzen informieren uns, doch sie machen uns nicht zu dem, was wir sind. Wenn man also beschließt, etwas zu tun, irgendwas, muss man sich fragen, was einen zu dieser Entscheidung geführt hat. Und öfter als gedacht wird es etwas sein, das einem nicht bewusst war.«
     
    Ich hasste meinen Vater viele Jahre, nachdem er mich verlassen und meine Mutter durch sein Weggehen ins Grab getrieben hatte.
    Dafür hasste ich meinen Vater, doch seine Lektionen vergaß ich nie.
    Warum ging ich so in die City los, dass ich um Punkt sieben am Tesla Building eintraf? Ich wusste, dass Aura um diese Zeit zur Arbeit kam, darum. Mein Unterbewusstsein hatte eine vermeintliche Zufallsbegegnung mit der Frau inszeniert, die ich liebte und abgewiesen hatte.
    Als ich also gegenüber dem wunderschönen aquamarinblauen und grünen Eingang des Tesla Building stand, hätte ich nicht überrascht sein sollen, Aura Arm in Arm mit einem fremden Weißen zu sehen. Er trug einen nicht besonders gut sitzenden, dunkelblauen Nadelstreifenanzug und in der Hand einen alten rotbraunen Aktenkoffer. Vor dem Eingang blieben sie stehen und küssten sich.
    Es war ein verträumter Kuss, die Art Lippenberührung, wie man sie nach einer langen Nacht befriedigenden Geschlechtsverkehrs hat. Mein Unterbewusstsein erklärte meinem lebendigen Herzen, ich sei die letzte Viertelmeile gerannt. Kalter Schweiß breitete sich von meiner Stirn bis zum Hals aus.
    Die Liebenden trennten sich, machten ein oder zwei Schritte und fingen dann willenlos wieder an, sich zu küssen.
    Ich wusste, dass schwerer Ärger drohte, als ich quer über die Straße direkt auf das Pärchen zulief, die Fäuste geballt und in einem Geisteszustand wie in meinen Tagen als Preisboxer nach dem Gong.
    Ich war bereit, dem Wichser den Kopf abzureißen.
    Ich musste in Bewegung bleiben, also drehte ich nach links ab und stürmte die
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