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Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit
Autoren: Walter Mosley
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Straße hinunter. Zum Glück kam mir kein Unschuldiger in die Quere.

8
    Ehe ich mich versah, war ich auf der 34 th Street, ein Stück westlich der 8 th Avenue. Gordo’s Boxstudio war immer meine Zuflucht gewesen. Ich stand schwer atmend vor der Eingangstür des Gebäudes, unfähig, mich zu rühren, nachdem ich endlich stehen geblieben war.
    Ich bin vierundfünfzig Jahre alt. In diesem fortgeschrittenen Alter sollte man nicht mehr ausrasten wie ein Teenager. Meine fehlende Selbstbeherrschung demütigte mich noch mehr als der Kuss. Wenn ich ein anderer gewesen wäre, wäre ich vielleicht weinend zusammengebrochen – nachdem ich mir einen doppelten Bourbon gegönnt hätte.
    Genau in diesem Augenblick erkannte ich, wie sehr ich Aura liebte. Vorher hätte ich meine Gefühle vielleicht auch mit Anziehung oder einer innigen Freundschaft verwechseln können. Aber dort auf der 34 th Street wusste ich, dass wahre Liebe aus meinem Unterbewusstsein aufgestiegen war – und ich hatte zu lange gezögert, sie zu erkennen.
    Der Allzweck-Bär knurrte in meiner Brusttasche. Ich vermutete, dass es Sam Strange war. Ich hatte mich wieder gut genug im Griff, um zu wissen, dass ich im Moment nicht mit Rinaldos Laufburschen reden konnte. Ich hätte ihn beschimpft und damit meinen eigenen Ruin heraufbeschworen. Also ließ ich den Bären ausknurren und stieß die Tür auf.
    Auf halber Strecke in den vierten Stock brüllte ein Löwe. Das war der Klingelton für Twill.
    »Du hast deiner Mutter gestern Nacht beinahe Magengeschwüre bereitet«, waren meine ersten Worte. Ich war froh, mit jemandem reden zu können, den ich mochte.
    »Tut mir leid, Pops«, sagte Twill. »Ich und Bulldog haben diese beiden Mädchen aus Weißrussland kennengelernt, und dann wurde es ziemlich heiß und heftig.«
    »Weißrussland?«
    »Ja. Das gehört irgendwie zu Russland. Ich hab meinem Mädchen erzählt, ich wär neunzehn. Tut mir leid, wenn Moms sich Sorgen gemacht hat.«
    »Hast du sie angerufen?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Weil die Mädchen einen Künstler in Southampton kennen, und wir sind rausgefahren, um ein paar Tage dort zu verbringen.«
    »Southampton? Was ist mit der Schule?«
    »Möchtest du mit D sprechen?«, lautete seine Antwort.
    »Dad?«, meldete Dimitri sich in der Leitung.
    »Hör zu, Sohn«, sagte ich, »dein Bruder ist auf Bewährung. Er verstößt gegen die Auflagen, wenn er Manhattan verlässt. Was passiert, wenn die Schule meldet, dass er unentschuldigt fehlt?«
    »Du könntest anrufen und sagen, er wär krank. Erzähl ihnen, er hätte die Grippe oder irgendwas. Ich meine, das würde uns echt helfen. Und, und, und du könntest auch seine Sozialarbeiterin anrufen … und erklären, warum er nicht bei der Arbeit ist.«
    Ich konnte mich nicht erinnern, wann mein leiblicherSohn zum letzten Mal mehr als ein paar gebrummte Wörter an mich gerichtet hatte. Angesichts von Dimitris untypischem Verhalten schmolzen all meine Wut und Scham dahin.
    »Du bittest mich, für dich und deinen Bruder zu lügen?«
    »Es wäre nicht das erste Mal, dass du lügst.«
    »Was ist los mit dir, D ?«
    »Ich bitte dich bloß darum, okay?«
    Was konnte ich sagen? Dimitri hatte mich seit fünf Jahren nicht einmal angelächelt.
    »Wann kommt ihr zwei nach Hause?«
    »In ein paar Tagen, das schwöre ich.«
    »Habt ihr Ärger? Muss ich rauskommen und euch helfen?«
    »Nein. Es ist nichts in der Richtung. Es ist bloß ein Mädchen … ich mag sie.«
    »Okay. Ich mache die Anrufe für Twill, und ich rede auch mit eurer Mutter. Aber ihr zwei müsst euch regelmäßig melden. Hast du verstanden?«
    »Hm-hm.«
    »Das ist mein Ernst, D . Du musst jeden Tag anrufen.«
    »Mache ich. Versprochen.«
    Das war die längste Unterhaltung mit ihm seit den Vögeln, Blumen und Bienen.
    »Gib mir noch mal Twill.«
    »Er ist rausgegangen.«
     
    Ich dachte, was Aura und diesen Kuss betraf, hätte ich das Schlimmste hinter mir, doch als ich mich umzog und auf den schweren Sandsack zutrat, kehrte das Gefühlzurück. Ich bearbeitete den Ledersack so, wie ich Auras nadelgestreiften Freund gern verprügelt hätte. Ich verteilte Schläge, bis meine Fingerknöchel geschwollen und sogar meine Fußsohlen vom Schweiß rutschig waren. Doch ich machte weiter, bis mein Gleichgewicht ernsthaft gefährdet war. Ich lag in der letzten Minute der letzten Runde eines Titelkampfes nach Punkten hinten und weigerte mich, meinem Körper eine Pause zu gönnen.
    Nachdem ich so fast zwanzig Minuten auf den Sack
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