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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen
Autoren: Ingrid Noll
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»Was ist eigentlich zielen?« fragte er, wohl um noch ein wenig Zeit zu gewinnen.
    »Aber Nico, das weißt du doch genau«, sagte der Vater und richtete den Revolver demonstrativ auf mich, »zielen geht sooo ...! Und nimm nie wieder von einem fremden Onkel Bonbons an ...«
    Ich stand auf und wollte mich, gemeinsam mit Nico, aus dem Raum stehlen.
    In diesem Augenblick krachte ein Schuß los. Ich spürte so etwas wie einen Schlag am rechten Bein und stürzte gegen den Weihnachtsbaum.
    In ihrem panischen Schrecken schrie sich Claudia fast die Seele aus dem Leib, Nico heulte los wie eine Sirene, der schwere Baum neigte sich ächzend aus seinem allzu zierlichen Ständer und donnerte schließlich unter dem nicht enden wollenden Klirren der vielen Glaskugeln zu Boden. Und zu allem Unglück hatte entweder der Baum oder ich die offene Wodkaflasche mitgerissen, so daß sich das helle Wässerchen mit meinem Blut zu einem ekligen Cocktail vermischte.
    Die Kugel in meiner Wade mußte operativ entfernt werden, verursachte aber glücklicherweise keine bleibenden Schäden. Am zweiten Feiertag besuchte mich Claudia im Krankenhaus. Sie erzählte, daß sich ihr Mann bisher vergeblich um einen Glaser und um die Einweisung des militanten Großvaters in eine psychiatrische Klinik bemüht habe.
    Als ich am nächsten Tag glücklich wieder im Bett meiner ausgekühlten Wohnung lag, erhielt ich einen Anruf meiner Mutter aus Mallorca. Sie schwärmte davon, daß sie den mittäglichen Espresso bei schönstem Sonnenschein auf der Terrasse trinke. Meine Eltern vermißten mich offenkundig nicht sonderlich, aber sie ahnten natürlich nicht, was ein Schneeball alles bewirken kann und wie knapp ihr armer Tommy dem Tod entronnen war.
    Mariä Stallwirtschaft
    Schon als Teenager wünschte ich mir einen Stall voller Kinder. Ich war eine begehrte Babysitterin. Bei Rebekka, Miriam, Anna, Deborah, Sarah und Hannah habe ich die Kleinen gehütet; ich erschien pünktlich, war eine zuverlässige Aufpasserin, eine geduldige Krankenpflegerin und eine liebevolle Spielkameradin. Die Kinder rissen sich um mich, die Mütter empfahlen mich weiter. Zur Belohnung erhielt ich zwar keine Silbermünzen, sondern Naturalien - drei Ellen rosagrün gemusterten Kattun, frische Feigen und Granatäpfel, ein wenig Haschisch oder Sorbet, Bergamotte-Öl oder Sandalen aus Ziegenleder. Ich sah übrigens mit zwölf Jahren sehr niedlich aus, meine Eltern waren sicher, daß sie einen gesalzenen Brautpreis verlangen konnten. Auf keinen Fall wollten sie diese wichtige Angelegenheit dem Zufall überlassen.
    Als ich dreizehn wurde, wußte ich aber bereits genau: Ich wollte nicht heiraten, ich mochte keine Männer. Nein, ich war keineswegs lesbisch, das nun auch nicht. Aber es bereitete mir Unbehagen, wenn ich beim Kinderbetreuen die abgeschirmten Doppelbetten sah, wenn ich Geräusche von nebenan hörte, die mich ängstigten, wenn ich mir vorstellte, was passieren mußte, bevor ein Kind auf die Welt kam. Meine Eltern lächelten, wenn sie mich hörten. Sie glaubten, ich sei noch zu jung für die Liebe, und waren der festen Meinung, ich würde früh genug meine trotzige Haltung aufgeben.
    Eigentlich will ich nicht über die Zeit meiner Pubertät reden. Es war ein einziges Aufbegehren gegen die Pläne meiner Eltern, ein Kampf um meine Selbstbestimmung. Kinder wollte ich zwar, aber keinen Mann. Vater und Mutter hoben die Hände gen Himmel über meine Unvernunft.
    »Herr erhöre uns«, beteten sie, »damit unsere geliebte, aber störrische Tochter endlich ein Einsehen hat!«
    Es ist hinlänglich bekannt, daß man nicht ihre, sondern meine Bitte erhört hat. Ich wurde schwanger, ohne mich in ein eheliches Lager begeben zu müssen. Höheren Ortes war man schon lange auf der Suche nach einer geeigneten Leihmutter, wie mir ein geheimnisvoller Bote mitteilte, der sich im übrigen ziemlich nebulös ausdrückte. Es mag auch sein, daß ich vor Aufregung nur die Hälfte seines Angebots verstand.
    Ganz ohne Kompromisse ging es natürlich nicht: Um einen Skandal zu vermeiden, wurde mir der alte Joseph an die Seite gestellt, der keinen müden Silbersekel besaß. Mein Vater erhielt keinen Brautpreis, ich zur Strafe keine Aussteuer, obwohl ich mir bloß einfache assyrische Alltagskeramik wünschte. Joseph ist mit meinen Eltern ein sogenanntes Gentleman’s Agreement eingegangen: Im Tausch gegen die Josephsehe zahlte man ihm eine bescheidene Altersversorgung.
    Nun, der Joseph war gar keine so schlechte Wahl, wenn
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