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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen
Autoren: Ingrid Noll
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Hause und tat mir leid.
    Meinen einsamen Weihnachtsnachmittag gestaltete ich hauptsächlich mit dem Kinderprogramm im Fernsehen, den Abend mit den Resten verschiedener Flaschen. Gegen Mitternacht brummte mir der Kopf, und ich verließ das Haus, um klarer denken zu können. Es schneite seit Stunden, so wie es sich viele Menschen - außer meinen egoistischen Eltern - inbrünstig gewünscht hatten.
    Vor dem Haus meiner Geliebten blieb ich stehen; wie ich wußte, schlief das Ehepaar getrennt. Claudias Schlafzimmerfenster war noch erleuchtet, und ich wurde von sehnsüchtigen Gefühlen geradezu überwältigt. Wie schön wäre es, wenn sie jetzt das Fenster weit öffnen würde, um für die Nacht noch einmal frische Luft hineinzulassen!
    Der Schneeball war rasch geknetet und traf perfekt. Aber statt eines sanften, watteweichen Aufpralls, der meine zärtlichen Absichten wie ein Hauch verkünden sollte, schepperte es ohrenbetäubend. Unabsichtlich hatte ich offenbar einen Stein eingebacken und die Scheibe wie mit einem Geschoß zertrümmert.
    Gebannt blieb ich stehen, denn Claudia mußte wohl oder übel reagieren, wenn auch sicherlich nicht mit großer Begeisterung. Aber am Heiligabend sollten kleine Sünden ja leichten Herzens vergeben werden.
    Statt des beschädigten Fensters wurde jedoch die Haustür aufgerissen, und ein großer Mann in Pantoffeln und Schlafanzug schlappte, so stramm es ging, auf mich zu. Mir rutschte nicht nur das Herz, sondern auch reichlich Schnee in die Hose, denn bei meinem eiligen Start glitschte ich schon nach wenigen Metern aus und fiel rücklings hin.
    Claudias Mann war ein Riese, der mich wie einen Zwerg mit einer Hand in die Senkrechte zog. »Das gibt eine Anzeige!« schnauzte er. »Einfach weglaufen, das könnte Ihnen so passen! Sie kommen jetzt mit ins Haus, und ich rufe die Polizei.« Meinen Beteuerungen, den Schaden ersetzen zu wollen, schenkte er keinen Glauben. Kurz darauf saß ich neben einem prächtig geschmückten Tannenbaum und legte dem erzürnten Hausherrn meinen Ausweis vor.
    In diesem Moment kam Claudia in einem hellgelben Negligé herein und brach bei meinem Anblick in markerschütterndes Gekreische aus.
    »Leg dich wieder schlafen«, sagte ihr Mann, »die Angelegenheit ist sofort erledigt.«
    »Bitte tu ihm nichts!« winselte sie.
    »Bloß keine Hysterie, meine Liebe«, sagte er, »es ist nur ein Besoffener, der nach vollendeter Tat schnell abhauen wollte. Vandalismus ist aber kein Kavaliersdelikt.«
    Und zu mir gewandt: »Schämen sollten Sie sich! Für Lausbubenstreiche sind Sie zu alt! Wie soll ich jetzt an den Feiertagen und bei diesem Wetter einen Glaser herkriegen!«
    Leider verzog sich Claudia immer noch nicht, wie er befohlen hatte, sondern heulte und zitterte, was das Zeug hielt. »Er ist doch gar kein Einbrecher!« schluchzte sie, obwohl das niemand behauptet hatte.
    Um sie zu beruhigen, trat ich an den Wandschrank und holte die Wodkaflasche und ein Gläschen heraus.
    »Danke, das tut gut«, sagte sie und trank aus.
    Nun erst begann ihr Mann, hellhörig zu werden. Er musterte seine Frau argwöhnisch und fragte: »Kennst du diesen hergelaufenen Penner etwa?«
    »Nein«, sagten Claudia und ich wie aus einem Munde, aber nun brüllte er: »Wie kann er wissen, wo mein Schnaps steht?«
    Wahrscheinlich war er viel zu laut geworden, denn Nico wurde wach und betrat nun ebenfalls die Bühne. Verpennt, zerstrubbelt und barfuß stand er in der offenen Tür und zielte mit einem Plastikcolt direkt auf mein Herz. »Schade«, sagte er und ließ die Waffe sinken, »es ist ja gar kein Räuber, sondern nur der Tommy!«
    Nicos Vater packte seinen Sohn am Schlafittchen. »Woher kennst du diesen Kerl?« fragte er.
    »Vom Spielplatz natürlich«, sagte Nico, »das ist doch der gute Onkel, der mir immer Bonbons schenkt!«
    Natürlich trug diese Aussage nicht unbedingt zu meiner Entlastung bei. Aber jetzt meldete sich erst einmal Claudia zu Wort, um mit einem erzieherischen Anliegen von der eigenen Person abzulenken. »Woher hast du diese schreckliche Waffe?« herrschte sie ihren Sohn an.
    »Von Opa natürlich«, sagte Nico und rieb sich die müden Augen.
    Das Familienoberhaupt nahm dem Kind die Knarre weg. »Die sind aber heutzutage schwer, diese Dinger«, stellte er fest und gab Nico einen Klaps auf den Po. »Geh wieder ins Bett«, befahl er, »und gewöhn dir ein für allemal ab, auf Menschen zu zielen!«
    Nico wandte sich zur Tür, die vielen Fragen und Verbote wurden ihm ohnedies lästig.
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