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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen
Autoren: Ingrid Noll
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Schlafzimmer betreten, ein rundes Turmgemach mit sechs Fenstern und neun Spiegeln. Es war wohl einmal eine richtige Liebeslaube gewesen.
    Da sie nun alt und reich geworden war, klammerte sich die Gräfin heftiger denn je an ihre weitläufige Familie, deren Mitglieder allerdings nicht »von« und »zu«, sondern »Schulz« und »Schmitt« hießen und Hessisch sprachen. Ihre triefäugige Schwester Traudel hatte insgesamt neun Enkel zwischen 15 und 28, die von der Gräfin als Hoffnungsträger und Lichtblick ihres Lebensabends angesehen wurden.
    Pilar hatte eine andere Meinung über diese arroganten Herrchen und ihre faulen, aufgetakelten Schwestern. Die Gräfin ging zwar früh ins Bett, aber die jugendlichen Verwandten soffen bis in die Puppen und mußten am anderen Tag zum Nachmittagskaffee geweckt werden. Wenn Pilar saubermachen wollte, wußte sie kaum, wo anfangen. In allen zugänglichen Zimmern stolperte sie über Rucksäk-ke und Turnschuhe und stieß auf überquellende Aschenbecher und leere Gläser, in die Schlafzimmer traute sie sich erst gar nicht hinein.
    Ihr besonderes Mißfallen erregte jedoch der gräfliche Liebling und vorgesehene Erbe. Es war ein junger Mann namens Sascha, mit Pferdeschwanz, Schlapphut und Ohrringen, der nie den langen Mantel auszog und von seinen hilflosen Eltern in ein Internat gesteckt werden sollte. Zu allem Überfluß hatte er einen sabbernden Köter angefüttert, der Pilar stets die Beine ablecken wollte. Da die drei Toiletten dem Ansturm nicht immer gewachsen waren, sah sie Hund und Herrn ungeniert gegen Estebans Schubkarre pinkeln. Zwar hielt sich Sascha für einen lustigen Charmeur, erreichte aber durch Süßholzraspeln und distanzlose Frechheiten bei Pilar das Gegenteil. Als stolze Mallorqui-nerin, die gut und gern doppelt so alt war, fühlte sie sich in ihrer Würde getroffen, wenn er sie herumkommandierte und Witze über ihre Oberweite machte.
    Als wieder Ruhe einkehrte, weil die Heuschreckenplage am 2. Januar glücklicherweise abschwirrte, ging es ans große Aufräumen. Doch als die Gräfin die Bestecke in den Schrank schließen wollte, versuchte sie vergeblich, die ge-liftete Stirn zu runzeln, denn es funkelten nur noch 23 goldene Löffelchen im Kasten. Nicht etwa, daß man wie im Märchen von goldenen Tellern aß, auch Messer und Gabeln waren vom üblichen 800er-Silber, aber die Dessertlöffel - Adel verpflichtet - waren aus reinem Gold. Natürlich befragte sie zuerst Pilar, die eifrig beim Suchen half. Es fanden sich zwar eine vermißte Brille im Zwiebelkorb, Kaugummis unter der Eßtischplatte, das Foto eines tätowierten Unbekannten und mehrere Taschentücher, Knöpfe und Sektkorken unter Sofas und Teppichen, aber der Löffel war weg. Der arme Esteban mußte den Inhalt eines prallen Müllsacks verlesen, was jedoch auch nichts einbrachte.
    Erst als Pilar gute zwei Wochen später Zeit fand, ihren eigenen Haushalt in Ordnung zu bringen, und ihre schmutzige Kittelschürze in die Waschmaschine stopfte, bemerkte sie verblüfft einen harten Gegenstand in der Tasche. Obgleich sie an diesem Tag eigentlich frei hatte, schwang sie sich doch unverzüglich aufs Fahrrad, um der Gräfin die gute Nachricht zu überbringen.
    Frohgemut betrat sie die Küche, den goldenen Löffel triumphierend in der Hand, als sie hörte, wie im Zimmer nebenan der Name ihrer Tante ausgesprochen wurde. Pilar hatte keine Probleme mit der deutschen Sprache und verharrte lauschend. Die Gräfin telefonierte offensichtlich mit ihrer Schwester: »Leider hat sich Josefa letztes Jahr an unserer Gans überfressen und ist an einer Gallenkolik gestorben«, vernahm die fassungslose Pilar, denn das stimmte nicht. Die Gräfin fuhr fort: »Aber weißt du, Trau-del, ehrlich sind hier alle, Esteban besonders. In all den
    Jahren ist niemals etwas abhanden gekommen. Josefas dicke Nichte, ich vergesse immer ihren Namen, ist überdies viel zu dumm zum Klauen.« Grimmig steckte Pilar den Löffel wieder ein und spitzte weiter die Ohren. »Ja, natürlich, Löffel geraten schon mal mitsamt dem Joghurtbecher in den Mülleimer, aber ich habe einen ganz anderen Verdacht. Nächstes Jahr werde ich Kusine Martha nicht mehr einladen.« Ohne daß sie bemerkt wurde, verzog sich Pilar.
    Eigentlich wollte sie dem ganzen Ärger durch eine Kündigung entgehen, wurde aber erstaunlicherweise vom eigenen Mann zum Aushalten überredet. Immerhin hatte sie zwischen Heiligabend und Neujahr täglich mehrere unvollständig geleerte Schnapsflaschen mit
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