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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe
Autoren: Alexandra Kui
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weit nach Norden aus. Das kann man, sobald es hell wird, auch mit bloßem Auge erkennen: eine dicke Schicht rötlicher Schmutz hat sich auf den Autodächern abgelagert, und der Himmel trägt ein milchiges Gewand, das die Sonne verhüllt, später am Tag sieht es dann plötzlich nach Gewitter aus. Wie ein Staubsauger hat ein Tiefdruckgebiet den ganzen Mist vom Mittelmeer her angesaugt, versprengte Überbleibsel des Wüstensturms Samum, den die Beduinen und Pollys Betreiber gleichermaßen für gefährlich halten.
    Was die Forscher glauben: Die Staubpartikel beeinflussen die Strahlung der Sonne, den Wasserkreislauf und die Chemie der Atmosphäre, können Bakterien transportieren, die Atemluft verpesten.
    Die Beduinen glauben im Grunde dasselbe, aber sie machen Dämonen dafür verantwortlich, böse Geister.
    Meine Meinung lautet: Wer für solche Dinge nicht empfänglich ist, denkt sich nichts dabei und fährt seinen Wagen durch die Waschanlage. Jedoch all die anderen, die Sensiblen, die Wetterfühligen, diejenigen, die ahnen, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als die Wissenschaft mit ihren komplizierten Gerätschaften und all den klugen Köpfen rund um den Globus auszuspionieren und zu erklären vermag, spüren, dass das Gift in der Luft etwas in Gang bringt.
    Etwas Böses.
    Unaufhaltsam wie eine chemische Reaktion.
    Die Furchtsamen dürfen sich jetzt noch tiefer in das Labyrinth ihrer Ängste hineinbegeben.
    Und ihr Gehässigen: Lasst euren schlimmen Gedanken freien Lauf. Worte zu Taten. Zeit für die Lämmer, sich in die Werwölfe und Vampire zu verwandeln, die ihr insgeheim immer schon sein wolltet, denn das hier ist wüster als Vollmond.
    Mein Spiel. Ich entscheide, wer als Erstes zur Strecke gebracht wird: Eine alte Frau mit schütterem Haar. Sie hat den Bombenkrieg und die große Sturmflut in Hamburg heil überstanden, aber an ihren Händen sind noch die Narben zu sehen, die sie sich in den brennenden Trümmern zugezogen hat. Bei der Flut verlor sie ihren Mann und zog fünf Kinder allein groß, arbeitete als Kellnerin, als Garderobiere, als Blumenverkäuferin.
    Als es geschieht, ist sie auf dem Rückweg von ihrer ältesten Tochter. Der Bus ist ihr vor der Nase weggefahren. Für ein Taxi ist sie zu geizig, obwohl sie sich die Fahrt leisten könnte.
    Es geht alles ratzfatz. Ein rätselhafter Schmerz schießt ihr durch die Glieder, ausgehend vom Genick.
    Sie merkt nicht mal, dass sie stirbt.

Senf auf Brot
    D ie Lifttür schließt beinahe geräuschlos. Aus alter Gewohnheit – fünf Jahre Altbau-Abenteuer im Karoviertel – ist Noa auf einen Ruck gefasst, doch der bleibt aus, kein Ächzen oder Schleifen in den Seilen, keine Schrecksekunde, in der sich entscheidet, ob bis zur Ankunft des Hausmeisters gar nichts mehr geht. Wie oft hat Herr Paulusen sie früher retten müssen. Hier hätte er nicht viel zu tun. Treu ergeben absolviert die Kabine ihr Pflichtprogramm: Schwebeflug hoch in die siebte Etage, sanfte Bremsung, wieder dieses stille Dahingleiten der Tür wie von Geisterhand. Sobald sie den Korridor betreten, schaltet sich die Beleuchtung automatisch ein, indirektes, dabei aber erstaunlich effizientes Licht, von Audrey als »höfliche Helligkeit« tituliert, weist ihnen den Weg zur Wohnungstür. Alles in diesem Gebäude ist von vorn bis hinten durchdacht, darauf aus, seinen Bewohnern so unaufdringlich wie möglich den Alltag zu erleichtern. Sogar eine kostspielige Be- und Entlüftungsanlage wurde installiert: damit man im Flur nicht durch irgendwelche Zwiebel- oder Knoblauchdämpfe belästigt wird, wenn der Nachbar kocht. Daher riecht es konsequent nach neuem Haus, nach Mörtel und Farbe genaugenommen, und Noa vermutet, dass das sehr lange so bleiben wird.
    »Da wären wir wieder«, sagt Audrey, dreht den Schlüssel im Schloss und stößt mit der Schulter die Tür auf. »Zuhause.«
    Ein Zuhause ohne Eigengeruch – geht das überhaupt? Noa pfeffert ihren Rucksack unter die Garderobe. »Ich kann’s immer noch nicht so richtig glauben«, sagt sie.
    Audrey errät ihre Gedanken: »Dass wir jetzt hier leben und nicht mehr in der Mathildenstraße?«
    »Dass du dieses Penthouse hast kaufen können. Von deinem eigenen Geld.«
    »Na ja«, sagt Audrey bescheiden. »Noch gehört mehr als die Hälfte der Bank.«
    »Und wenn schon. Ich finde es trotzdem unglaublich.«
    Audrey ist erst siebenundzwanzig und ihre Eltern haben ihnen nichts hinterlassen. Auch die Großeltern, bei denen sie unterkamen, nachdem sie zu
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