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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe
Autoren: Alexandra Kui
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Waisen geworden waren, verstarben mittellos: Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachten sie schwer an Demenz erkrankt in einem Pflegeheim, wofür sämtliche Ersparnisse draufgingen. Dementsprechend bescheiden verlief der Neubeginn der Schwestern in Hamburg. Noa kann sich noch gut an gemeinsame Abendessen erinnern, die unter dem Motto »Senf auf Brot de luxe« standen. Als Luxus verbuchten sie eine brennende Kerze, die Tatsache, dass das Brot immer frisch war, sowie ihre Senfauswahl. Sie verfügten über einen großen Vorrat bunter Portionsbeutelchen, stibitzt in diversen Imbissbuden, sie waren regelrecht Expertinnen, was die Textur und die Würzvarianten von Senf betraf. Hin und wieder leisteten sie sich sogar die Variante »Doppel-de-luxe«: das hieß mit Cola.
    Es war nicht die schlechteste Zeit ihres Lebens, sie beide auf sich allein gestellt in einer fremdartigen, aufregenden Umgebung namens Großstadt. Die Intimität der im Sommer herrlich kühlen, im Winter jedoch zugigen Wohnung. Der poröse, aber wunderschöne Stuck an der Decke. Das Knacken der Holzdielen, die meistens mit Manuskriptseiten übersät waren. Bisweilen kommt es Noa vor, als hätten sie sich damals näher gestanden. Andererseits möchte sie die ganzen neuen Annehmlichkeiten – die segensreichste davon ihr geräumiges, zentralgeheiztes Zimmer mit Balkon und Blick auf Elbe und Hafen – keinesfalls missen.
    Nicht zu vergessen ein weiterer, lang gehegter Wunsch, der erst nach ihrem Umzug in die Hafencity in Erfüllung gegangen ist: ein Haustier. Audrey konnte sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, aber jetzt ist Pancake Teil der Familie und erwartet sie in der Küche. Der Siamkater hat es sich auf dem Tresen gemütlich gemacht und schlägt zur Begrüßung einen langsamen Takt mit der Schwanzspitze. Er ist ein unabhängiger kleiner Kerl, leider nicht sonderlich handzahm. Der Nachbar, der während ihrer Abwesenheit netterweise den Napf aufgefüllt hat, hat eine Notiz hinterlassen: Er habe keine Katze zu Gesicht bekommen. Ob Pancakes Existenz nicht vielleicht doch nur ein Gerücht sei?
    »Ist nicht das ganze Leben nur ein Gerücht?«, fragt Audrey mit einem Schmunzeln und knüllt den Zettel zusammen.
    »Ich hoffe nicht«, erwidert Noa. »Ich wünsche mir, dass es stimmt.«
    Audrey wird sofort ernst. »Dann sorgen wir dafür«, sagt sie. »Machen wir es wahr, so wie es ist.«
    Manchmal kann sie ziemlich pathetisch sein. Es folgt einer dieser Augenblicke, in denen die Schwesternliebe mit ihr durchgeht und sie Noa so fest an sich drückt, als wolle sie einen dauerhaften Abdruck hinterlassen, eine Markierung. Noa weiß Audreys Umarmungen zu schätzen, obschon sie manchmal eher eine Inbesitznahme darstellen als eine Liebkosung, aber was zu viel ist, ist zu viel. Sie macht sich los.
    »Morgen Schule?«, ruft Audrey ihr nach, als sie schon beinahe ihr Zimmer erreicht hat, Pancake im Schlepptau.
    »Klar ist morgen Schule. Erste Stunde.«
    »Dann sieh zu, dass du ins Bett kommst.«
    Das lässt Noa sich nicht zwei Mal sagen. Sie ist in einer komischen Stimmung, eine Mischung aus Melancholie und Überdrehtheit. Sie schiebt es auf die Neben- und Nachwirkungen der Reise, kann kaum erwarten, darüber hinwegzuschlafen. Doch im Bett findet sie nicht sofort Ruhe. Nebenan ist Audrey in ein Telefonat vertieft und lacht mehrmals nacheinander laut auf. Noa starrt die Wand an, als könnte sie sie allein durch ihre Willenskraft dazu bringen, durchlässiger zu werden, da sie zu gern wüsste, was ihre Schwester so erheitert oder besser: wer. Als ob sie es sich nicht denken könnte. Erst als der Kater sich am Fußende ihres Bettes niederlässt, Audrey auflegt und ihren Computer hochfährt – der vertraute Klang der Fanfaren ein Bindeglied zwischen der alten und der neuen Ära ihres Zusammenlebens –, dämmert Noa allmählich weg.
    Über Nacht hat das Wetter eine Kehrtwende vollzogen. Gestern bei ihrer Rückkehr schlug ihnen wie erwartet nasskalte Herbstluft entgegen, der Morgen jedoch ist so sonnig und warm, dass sie auf der Dachterrasse frühstücken können. Allerdings zeigt sich der Himmel verhangen, keine Wolken, eher ein Schleier, der die Sonne weiß erscheinen lässt. Auf dem Geländer liegt rötlicher Staub.
    »Saharastaub über der Hansestadt«, liest Audrey aus der Tageszeitung vor. »Da hast du deinen Samum. Verrückt, oder? Offenbar passiert das alle paar Jahre mal.«
    Noa zuckt mit den Schultern. Was ihr gestern noch einen Schrecken eingejagt hätte,
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