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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe
Autoren: Alexandra Kui
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sogar für seine Menschenliebe, sein Verhalten ringt ihr Respekt ab. Während sie Pancake beim Fressen zusieht, fragt sie sich, was sie getan hätte. Die Antwort schwebt wie Rauch über ihren Köpfen, den Noa inhaliert und wieder ausatmet und wieder inhaliert und immer so weiter. Er schmeckt verdammt gut. Geradezu süß. Sie hätte draufgehalten, kein Zweifel. Wenn sie könnte, würde sie es vermutlich jederzeit tun. Genau wie Audrey ist sie ein Mensch mit einer tief verwurzelten Wut.
    »Wenn Audrey stirbt, will ich dich nie wiedersehen«, sagt sie zu Moritz.

Auf große Fahrt?
    A blandige Böen. Der Wind drückt das Wasser weg von
    der Küste, sodass der Schiffsführer der Frisia mit Kurs auf Sande noch umsichtiger navigieren muss als sonst, um nicht auf einer der zahlreichen Sandbänke im Wattenmeer aufzusetzen. Der Zick-Zack-Kurs kommt Noa bekannt vor, aber diesmal geht es so langsam voran, dass sie ungeduldig wird. Die Aussicht auf ein Wiedersehen mit der Insel macht sie glücklich. Zumal sie diesmal mit Audrey heimischen Boden betreten wird.
    »Als ich klein war, da ist es mal passiert. Wir sind tatsächlich auf Grund gelaufen«, berichtet Audrey versonnen. Stolz und selbstsicher wie eh und je steht sie da in ihrem geblümten Sommerkleid, aber ihr Blick ist milder geworden.
    »Und dann?«
    »Hat der Kapitän alle Passagiere aufgefordert, sich in den vorderen Teil des Schiffes zu begeben. Auf drei mussten alle in die Luft springen.«
    »Und das hat funktioniert?«
    »Hat es. Das war ein schöner Tag. Und du warst dabei, weißt du? Mama war gerade mit dir schwanger. Sie hat sich gefreut, weil sie deshalb viel schwerer war als sonst.«
    Noa drückt ihre Hand. Sie weiß, wie schwer es der Schwester fällt, auf die Insel ihrer Kindheit zurückzukehren, auch wenn sie es selbst vorgeschlagen hat, um Noa einen Gefallen zu tun. Vergangenheitsbewältigung als Neuanfang und Schlussstrich zugleich. Es kommt Noa wie ein Wunder vor, dass sie gemeinsam hier an Bord stehen. Dass sie überhaupt am Leben sind, fest verbunden durch die Bande ihrer Kindheit – und der Bürde, als Einzige aus der Familie übrig geblieben zu sein. Beim Besuch auf dem Friedhof wird Noa den Eltern alles erzählen. Ihre Gedanken eilen der Fähre voraus bis weit in die Zukunft.
    Im Frühjahr wird sie ein Praktikum auf einem Containerschiff absolvieren. Wenn alles glatt geht und sie ihre Seediensttauglichkeit vom Arzt bestätigt bekommt – was kein Problem sein dürfte –, beginnt dann im nächsten Herbstsemester ihr Nautik-Studium in Bremen. Auch Moritz will sich in Bremen einschreiben. Für Architektur. Schon jetzt liegt er ihr in den Ohren, weil sie bereits während des Studiums so oft von ihm getrennt sein wird, mindestens ein Jahr gehört dem Deckdienst.
    Was danach kommt? Woher soll sie das wissen? Es gibt auch tolle Berufe für Nautiker an Land, aber am liebsten würde Noa auf große Fahrt gehen. Und mit Moritz zusammen bleiben. Warum sollte sie nicht ausnahmsweise mal alles bekommen, was sie sich wünscht?
    Wenn sie eine Liste aufstellen dürfte, würde sie auch noch die Versöhnung von Arne und Audrey mit draufsetzen. Da sie und Moritz sich so nahestehen, tut es ihr jetzt leid, dass es mit den beiden nicht geklappt hat. Zumal Audreys neuer Freund ein kompletter Idiot ist. Ein schlaksiger Sänger, der mit seiner Indie-Band im letzten Jahr einen Chart-Erfolg gelandet hat und sich wer weiß was darauf einbildet. Noa findet ihn faul und frech. Genau wie Arne früher hat er die Neigung, Noa anzustarren. Vielleicht ist das der Preis, den sie dafür zahlen muss, dass sie sich mittlerweile selbst ziemlich gern im Spiegel betrachtet. Jedenfalls meistens.
    Wie verabredet besuchen sie in Sande als Erstes das Grab ihrer Eltern. In letzter Zeit hat Audrey sich Mühe gegeben, Noa von ihnen zu erzählen. Dennoch bleiben ihre Gesichter in Noas Vorstellung maskenhaft, ihre Handlungsweisen stereotyp. Obwohl ihre Abwesenheit sie geprägt hat und die Trauer ihretwegen ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden ist, begreift Noa, dass diese Fremdheit ihren Verlust in gewisser Weise abmildert. Wie kann man jemanden vermissen, ohne ihn gekannt zu haben?
    Anders als sie es sich vorgenommen hat, sagt Noa während des gesamten Friedhofsbesuchs kein einziges Wort. Auch Audrey schweigt, aber es ist klar, woran sie beide denken. Noa ist erleichtert, dass Thomas Hansen nun auch den Mord an ihren Eltern gestanden hat. Allein deswegen war es richtig von Moritz, ihn nicht
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