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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe
Autoren: Alexandra Kui
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unerträglich wird. Das Geräusch verrät ihr, wie weit sie davon entfernt ist, ihre Fesseln zum Reißen zu bringen. Sie ist zu schwach. Und wegen der Enge in dem verfluchten Spind gelangt sie mit den Händen beim besten Willen nicht an die Füße heran, weshalb sie auch da nichts ausrichten kann. Noa ist ausgeliefert.
    Was hat Tom mit ihr vor? Der Schluss, der sich aufdrängt, lautet: Er kann sie nicht am Leben lassen. Sie weiß zu viel. Die unfassbare Möglichkeit, ihren achtzehnten Geburtstag nicht mehr zu erleben.
    Als sie glaubt, in der Tiefgarage ein Auto vorfahren zu hören, setzt Noa alles auf eine Karte und schlägt Krach, indem sie mit den Hacken und Ellenbogen auf die Wand des Spinds eintrommelt, doch da ihr Bewegungsradius so stark eingeschränkt ist, hält sich auch die Lautstärke in Grenzen. Nichts geschieht. Doch wenig später brummt erneut ein Motor – und Noa verdoppelt ihre Anstrengungen.
    Dann Schritte, näherkommend. Eine Tür wird geöffnet, das Klirren eines Schlüsselbunds. Noa nimmt eine Erschütterung wahr, und ihr Instinkt sagt ihr, dass Tom zurückgekommen ist. In Schockstarre verfallen, wappnet sie sich gegen neuen Schmerz, der, als er kommt, sämtliche Nervenbahnen unter Dauerbeschuss setzt. Dagegen ist die Bewusstlosigkeit, in die sie irgendwann hineingleitet wie in einen Pool mit kühlem, blauen Wasser, die reinste Gnade.
    Das Tuckern eines Motors: ein Diesel. Sie fahren. Unter den Reifen singt glatter Asphalt, rumpeln Eisenbahnschienen, knirscht Schotter. Es klingt, als wären sie im Hafen. Folglich sind sie noch nicht lange unterwegs.
    Abgesehen davon, dass sie nun auf einem harten, stinkenden Teppich liegt, befindet sich Noa in derselben brutalen Falle wie zuvor, aber wenigstens bleibt ihr beim Aufwachen der Schock darüber erspart. Die Unfähigkeit, sich zu rühren oder die Glieder zu bewegen, ihre Blindheit – sie kennt die Gründe. Weiß genau in welcher Gefahr sie schwebt. Wie wenig Zeit ihr noch bleibt, sich zu befreien.
    Kaum hat sie diesen Gedanken zu Ende gebracht, geht ein Ruck durch das Fahrzeug, Noas Kopf schlägt zur Seite, trifft hart gegen einen Widerstand, in der leicht veränderten Position bleibt sie reglos liegen. Ihre Angst ist jetzt unbezwingbar. Ein großes, schwarzes Tier, das sie mit Haut und Haaren verschlingt.
    Noa hört, wie die Fahrertür geöffnet wird, Sekunden später die Heckklappe, danach rumpelt es, als würde Tom etwas entladen. Etwas Wuchtiges. Er muss sich abmühen. Sein Atem kommt stoßweise, ein wütendes Fauchen.
    Schließlich geht eine dritte Tür auf, eine Schiebetür diesmal, und ein Schwall kalter Luft prallt auf Noas Gesicht. Sie spürt die Nähe ihres Peinigers. Riecht den Eigengeruch seiner Haut, das Duschgel, das er am Morgen benutzt hat. Der Geruch des Phantoms auf Sande. Jetzt, denkt sie. Es ist soweit. Und obwohl sie nicht schreien kann, brüllt sie sich heiser. Obwohl sie nicht weinen kann, fließen die Tränen. Obwohl sie nicht um sich schlagen kann, fliegen ihre Fäuste durch die Luft, beseelt von dem Wunsch, sein unaufdringlich freundliches Klassenprimus-Gesicht zu zerschmettern, ihn mit einem einzigen Schlag ins Jenseits zu befördern.
    In ihrer Verzweiflung dauert es, bis Noa begreift, dass ihre Hände tatsächlich frei sind. Tom hat das Paketband durchtrennt. Für den Bruchteil einer Sekunde ist sie dankbar. Ohne zu überlegen, reißt sie sich den Knebel vom Mund. Luft. Klare, frische, nach Elbe duftende Luft. Noa atmet ein, atmet aus, die tiefsten und hungrigsten Atemzüge ihres Lebens. Es könnten auch die letzten sein: Noa rechnet noch immer damit, umgebracht zu werden, hebt unwillkürlich beide Arme hoch, um einen weiteren Schlag von Tom abzublocken. Eine Geste der Hilflosigkeit. Sie hat keinen Schimmer, wie sie sich gegen ihn zur Wehr setzen soll.
    Aber das muss sie auch nicht, wie sich zeigt. Tom ist fort. Das wagt Noa allerdings erst zu glauben, nachdem sie auch noch das Paketband von ihren Augen entfernt und die darauf folgende Lichtexplosion verwunden hat. Ihr Blick ist verschwommen, klart nur allmählich wieder auf. Keuchend befreit sie ihre Füße. Keine Spur von ihm.
    Ihr erster Impuls: Wegrennen, so weit die Füße tragen, Abstand gewinnen, falls dieser Geisteskranke es sich doch noch anders überlegt. Aber sie gibt dem Drang nicht nach. Ihr Bauchgefühl meldet sich zu Wort, mahnt zur Besonnenheit. Irgendetwas ist faul. Toms Flucht ergibt keinen Sinn. Der Mann hat einen kaltblütigen Mord nach dem anderen
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