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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe
Autoren: Alexandra Kui
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ihrem Feind nicht machen. Tom. Thomas Hansen. Endlich hat das Böse ein Gesicht bekommen. Und einen Namen.
    Noa zwingt sich, so ruhig wie möglich durch die Nase zu atmen, zählt in Gedanken von hundert abwärts. Alles mit geschlossenen Augen, denn gegen das Gewicht, das auf den Lidern lastet, kommt sie immer noch nicht an. Bei zweiundneunzig lässt das krampfhafte Gefühl in der Brust ein wenig nach, bei siebzig verlangsamt sich ihr rasender Puls. Bei einundvierzig hört die Flüssigkeit in ihrem Kopf auf zu brodeln und der Schmerz wird dumpfer. Sie hat einen ersten kleinen Sieg errungen. Berauscht von ihrem eigenen Überlebenswillen, fasst Noa neuen Mut. Sie muss hier raus. Doch wo befindet sie sich? Und wie lange liegt sie schon hier? Falls sie überhaupt liegt. Auf einmal ist sie sich dessen nicht mehr so sicher. Völlige Orientierungslosigkeit ergreift von ihr Besitz. Was stimmt nicht mit ihr? Wieso kann sie ihre Arme nicht heben?
    G rauenvolle Minuten verstreichen, in denen Noa glaub t, kopfüber durch einen leeren, blauschwarzen Raum zu trudeln, woraus sie den Schluss zieht, gestorben zu sein. Ihre Seele durch einen Fehler im System übrig geblieben, verschollen in der Unendlichkeit.
    Wieder steigt Panik in ihr auf, wieder gelingt es Noa, sie durch die beruhigende Magie einer Zahlenfolge niederzuringen. Diesmal sagt sie im Geist das Einmal-Sieben auf, denn Sieben ist ihre Lieblings- und Glückszahl, und als solche lässt sie Noa nicht im Stich. Ihr Verstand wird klarer, sie begreift, dass sie gefesselt ist, die Füße über Kreuz, die Hände hinter dem Rücken, ihre Augen sind mit einer knisternden, folienartigen Substanz verschlossen. Paketklebeband. Das gesamte Fixierungskonzept beruht auf Paketklebeband, auch Fesseln und Knebel bestehen daraus. Und ja, sie liegt. Auf der Seite. Ihr Wangenknochen ruht auf einer kalten, metallischen Unterlage. Anscheinend hält Tom sie für einen ernstzunehmenden Gegner, sonst hätte er sie nicht in diesen Zustand absoluter Hilflosigkeit versetzt. Vielleicht macht es ihm auch einfach nur Spaß. Gixxer13. Sein Vergnügen an der Debatte über Fesselungen und Schmerzen in Audreys Diskussionsforum. Miriam hat die Sache richtig eingeschätzt: Er ist im pathologischen Sinne wahnsinnig, ein Fall für die Psychiatrie. Sicherheitsverwahrung bis ans Ende seiner Tage.
    Bevor die Überlegung, was er mit ihr vorhat, eine dritte Panikattacke auslösen kann, beginnt Noa tastend ihr Gefängnis zu erkunden. Es ist schmal, ihre Fingerspitzen kratzen an einer Wand. Metall. Auch mit der Stirn stößt sie bei der geringsten Bewegung gegen dasselbe Material. Getreu den Anregungen im Chat hat Tom sie in eine Kiste verfrachtet, vermutlich ein Spind, wie er in Umkleidekabinen zu finden ist. Nur dass er nicht an die Wand geschraubt, sondern flach auf dem Boden abgelegt wurde. Aber wo befindet sich dieser Boden?
    Noa lauscht. Alles, was sie hört, ist das Blut, das durch ihre Adern rauscht. Ihre Kopfschmerzen werden wieder stärker, jagen ausgehend von den Sehnerven kreuz und quer durch ihren Schädel bis tief hinunter ins Rückenmark. Auch die Gliedmaßen tun jetzt weh, was nicht nur an den Fesseln liegt, sondern vor allem an der ungewohnt starren Körperhaltung. Sie hätte öfter zum Yoga gehen sollen.
    Während sie die Spindwand auf Höhe ihrer Hände auf der Suche nach einer scharfkantigen Stelle abtastet, mit der sie mit etwas Glück ihren Fesseln zu Leibe rücken könnte, kommt Noa zu dem Schluss, dass sie sich wahrscheinlich noch im selben Gebäude befindet. In ihrem Haus. Das sagt ihr zum einen der spezifische Geruch, selbst durch den Gestank ihres Angstschweißes hindurch schwach wahrnehmbar, zum anderen erscheint es ihr logisch: Tom hat sie in seiner Wohnung niedergeschlagen, mitten am Tag. Mit einem bewusstlosen Mädchen auf dem Arm, würde er in der Hafencity ein gewisses Aufsehen erregen. Um sie unauffällig woanders hin zu verfrachten, bräuchte er ein Auto. Und soweit Noa weiß, besitzen er und Laura keins. Also muss er eins besorgen. Unterdessen hat er sie in einem der Kellerräume versteckt, die zu jeder Wohnung gehören. Sie liegen gleich neben der Tiefgarage. Folglich ist zumindest ein Teil des Rauschens, das sie die ganze Zeit hört, der Heizungsanlage zuzuschreiben.
    Noa erschlafft. Die Wand ist glatt wie das Innere einer Muschel. Als ihr klar wird, wie schlecht ihre Chancen stehen, versucht sie es mit roher Gewalt, zerrt am Paketklebeband, bis das Brennen in den Handgelenken
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