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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition)
Autoren: Hilary Mantel
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ihre Seidenfrauen, der Apotheker, ihr Wäschehändler, ihr Sattler, ihr Färber, der Hufschmied und der Nadelmacher. Der Status ihrer Tochter ist ungewiss, doch das Kind ist gut versorgt, mit goldenen Fransen am Bett und weißen und purpurnen Satinhauben mit Goldborte. Der Sticker der Königin bekommt noch fünfundfünfzig Pfund, und man kann sehen, wohin das Geld gegangen ist.
    Der Lohn des französischen Henkers liegt bei über dreiundzwanzig Pfund, aber das ist eine Ausgabe, die sich wohl nicht wiederholen wird.
    In Austin Friars nimmt er die Schlüssel und betritt den kleinen Raum mit den Weihnachtssachen, den, in dem Mark eingesperrt war und in dem er nachts vor Angst geschrien hat. Die Pfauenflügel müssen ausgesondert werden. Rafes kleines Mädchen wird sich wahrscheinlich nicht an sie erinnern: Das Gedächtnis eines Kindes reicht nicht von einem Weihnachtsfest zum nächsten.
    Er schüttelt die Flügel aus ihrem Leinenbeutel, breitet den Stoff aus und hält ihn gegen das Licht. Der Beutel ist aufgeschlitzt, und jetzt versteht er, wie die Federn herauskriechen und dem jetzt toten Mann über das Gesicht streichen konnten. Er sieht, wie schäbig die Flügel sind, als wären sie angefressen worden, und die schimmernden Augen sind verblichen. Es sind flitterhafte Dinger, die es nicht aufzubewahren lohnt.
    Er denkt an seine Tochter Grace. Er denkt: Hat meine Frau mich je betrogen? Wenn ich wie so oft für den Kardinal unterwegs war, hat sie sich da mit dem Seidenhändler eingelassen, den sie durch ihre Arbeit kannte, oder hat sie, wie es so viele Frauen tun, mit dem Priester geschlafen? Er kann es kaum glauben. Sie war eine schlichte Frau, aber Grace war so schön, hatte so feine Züge. Sie verwischen dieser Tage in seinem Gedächtnis. Das tut dir der Tod an, er nimmt und nimmt, bis am Ende nur noch eine schwache Aschespur in deinem Gedächtnis bleibt.
    Er sagt zu Johane, der Schwester seiner Frau: »Glauben Sie, Lizzie hatte je etwas mit einem anderen Mann? Ich meine, während wir verheiratet waren?«
    Johane ist schockiert. »Wer hat Ihnen denn den Gedanken in den Kopf gesetzt? Vergessen Sie ihn gleich wieder.«
    Er versucht es. Aber er wird das Gefühl nicht los, dass ihm Grace weiter entgleitet. Sie starb, bevor sie gemalt oder gezeichnet werden konnte. Sie hat keine Spur ihres Lebens hinterlassen. Ihre Kleider, ihr Stoffball und ihre hölzerne Puppe mit dem Kittel sind lange in die Hände anderer Kinder übergegangen. Aber das Übungsbuch seiner älteren Tochter Anne hat er noch. Manchmal holt er es hervor und blättert darin. Mit großen Buchstaben ist ihr Name hineingeschrieben: Anne Cromwell, dieses Buch gehört Anne Cromwell. Die Fische und Vögel, die sie an die Ränder gemalt hat, die Meerjungfrauen und die Greife. Er bewahrt sie in einer hölzernen Kiste auf, die innen wie außen mit rotem Leder überzogen ist. Oben auf dem Deckel ist die Farbe zu einem blassen Rosa verblichen. Nur wenn man ihn abnimmt, sieht man innen das ursprüngliche, knallige Scharlachrot.
    Die Lichter der Nacht finden ihn an seinem Arbeitstisch. Papier ist wertvoll. Verschnitt und Reste werden nicht weggeworfen, sondern umgedreht und neu verwendet. Oft nimmt er ein altes Buch mit Briefen in die Hand und findet Notizen von Kanzlern, die lange schon Staub sind, von Bischöfen und Geistlichen, die kalt unter den Inschriften ihrer Verdienste liegen. Als er auf diese Weise nach Wolseys Tod zum ersten Mal auf dessen Handschrift stieß – eine hastige Rechnung, einen verworfenen Entwurf –, zog sich sein Herz zusammen, und er musste die Feder zur Seite legen, bis sich die Verkrampfung löste. Er hat sich an diese Begegnungen gewöhnt, aber heute Abend, als er ein Blatt umdreht und die Schrift des Kardinals erkennt, kommt sie ihm seltsam vor, als hätte sich die Form der Buchstaben durch einen Trick, vielleicht durch das Licht, verändert. Es könnte auch die Schrift eines Fremden sein, eines Gläubigers oder Schuldners, mit dem du zuletzt zu tun hattest, ohne ihn gut zu kennen. Es könnte die Schrift eines einfachen Schreibers sein, dem sein Master diktiert.
    Ein Moment verstreicht: ein weiches Flackern der Bienenwachsflamme, ein Stoßen des Buches in Richtung des Lichts, und die Worte nehmen ihre gewohnten Konturen an, sodass er die tote Hand erkennt, die sie geschrieben hat. Während der hellen Tagesstunden denkt er nur an die Zukunft, doch manchmal spätabends setzt ihm sein Gedächtnis zu. Trotzdem. Seine Aufgabe besteht darin,
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