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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition)
Autoren: Hilary Mantel
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Kopf und setzt sie wieder auf. Sie weiß nicht, was sie tun soll, er sieht, dass sie nicht weiß, ob sie sich die Haube mit dem Band unter dem Kinn festbinden soll, ob sie nicht vielleicht auch ohne Festbinden hält, ob sie die Zeit hat, einen Knoten zu machen, und wie viele Herzschläge ihr noch in dieser Welt bleiben. Der Henker tritt vor, und er, Cromwell, kann sehen – er ist sehr nahe –, wie sich Annes Augen auf ihn richten. Der Franzose geht kurz in die Knie und bittet um Vergebung. Es ist eine Äußerlichkeit, die Knie berühren kaum das Stroh. Er bedeutet Anne, sich hinzuknien, und als sie es tut, weicht er zurück, als wollte er nicht einmal ihre Kleider berühren. Er hält einer der Frauen ein gefaltetes Tuch hin und hebt eine Hand an die Augen, um ihr zu bedeuten, was er meint. Er hofft, es ist Lady Kingston, welche die Augenbinde nimmt. Wer immer es ist, sie ist geschickt; dennoch entweicht Anne ein leises Geräusch, als sich ihre Welt verdunkelt. Ihre Lippen bewegen sich im Gebet. Der Franzose winkt die Frauen weg. Sie weichen zurück, sie knien, eine von ihnen sinkt fast zu Boden und wird von den anderen wieder aufgerichtet. Trotz der Schleier kann man ihre Hände sehen, ihre hilflosen nackten Hände, als sie sich die Röcke um die Beine ziehen, als machten sie sich klein und versuchten sich zu schützen. Die Königin ist allein, so allein wie nie in ihrem Leben. Sie sagt, Christus sei mir gnädig, Jesus sei mir gnädig, Christus empfange meine Seele. Sie hebt einen Arm, noch einmal fassen ihre Finger nach dem Haar, und er denkt, nimm den Arm herunter, nimm um Himmels willen den Arm herunter, und er könnte es nicht stärker wünschen, wenn es … Der Henker ruft scharf: »Gebt mir mein Schwert!«, und der Kopf mit den verbundenen Augen fährt herum. Der Mann steht hinter Anne, sie sieht in die falsche Richtung, sie spürt ihn nicht. Ein Ächzen ist zu hören, ein einziges Ächzen aller Anwesenden. Dann ist es still, und in diese Stille hinein erklingt ein Geräusch wie ein scharfes Seufzen oder wie das Pfeifen durch ein Schlüsselloch: Der Körper spuckt Blut, bald schwimmt die kleine, flache Gestalt in einer Pfütze davon.
    Der Herzog von Suffolk ist stehen geblieben. Richmond ebenfalls. Alle anderen, die gekniet haben, stehen wieder auf. Der Henker hat sich dezent abgewandt und sein Schwert bereits wieder abgegeben. Sein Helfer nähert sich dem Leichnam, aber die vier Frauen sind vor ihm da und versperren ihm den Weg. Eine von ihnen sagt mit fester Stimme: »Wir wollen nicht, dass Männer sie anfassen.«
    Er hört den jungen Surrey sagen: »Nein, die haben sie genug angefasst.« Er sagt zu Norfolk: Mylord, nehmen Sie Ihren Sohn und bringen Sie ihn weg von hier. Richmond scheint, wie er sieht, übel geworden zu sein, und er verfolgt mit Anerkennung, wie Gregory zu ihm geht und sich so freundlich, wie es ein Junge vor einem anderen nur kann, verbeugt und sagt, Mylord, belassen Sie es dabei, kommen Sie. Er weiß nicht, warum Richmond nicht niedergekniet ist. Vielleicht glaubt er den Gerüchten, die Königin habe versucht, ihn zu vergiften, und wollte ihr diese letzte Ehre nicht erweisen. Bei Suffolk ist es verständlicher. Brandon ist ein harter Mann, und er schuldete Anne nichts. Er hat Schlachten miterlebt. Aber nie ein Blutvergießen wie dieses.
    Es scheint, dass Kingston nicht über den Tod hinausgedacht hat, nicht bis zur Beerdigung. »Ich hoffe bei Gott«, sagt er, Cromwell, an niemand Besonderen gerichtet, »dass der Konstabler daran gedacht hat, die Bodenplatten in der Kapelle aufzunehmen«, und jemand antwortet ihm: Ich denke schon, Sir, sie sind schon vor zwei Tagen geöffnet worden, damit ihr Bruder darunter Platz fand.
    Der Konstabler hat seinen Ruf in diesen letzten paar Tagen nicht verbessert, allerdings ist er vom König auch in Unsicherheit gehalten worden und hat, wie er später zugeben wird, den ganzen Morgen über damit gerechnet, dass ein Bote aus Whitehall käme, um der Sache Einhalt zu gebieten: selbst noch, als der Königin die Stufen hinaufgeholfen wurde, selbst noch, als sie die Haube abnahm. Er hat nicht an einen Sarg gedacht, sondern lässt eine hastig geleerte Ulmentruhe für Pfeile an den Schauplatz des Blutbades bringen. Gestern noch war das Ziel dieser Truhe Irland und jeder Schaft in ihr bereit für seinen eigenen, einsamen tödlichen Zweck. Jetzt ist sie das Objekt öffentlicher Aufmerksamkeit, ein Totenschrein, gerade groß genug für den kleinen Körper der
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