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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition)
Autoren: Hilary Mantel
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ihr gesprochen«, sagt Francis Bryan. »Er hat nur gesagt, dass er nicht verstehen kann, wie es zu der ganzen Sache gekommen ist. Dass er sich, wenn er den Blick zurück auf die letzten zehn Jahre wirft, selbst nicht versteht.«
    Sie schweigen. Francis sagt: »Sehen Sie, sie kommen.«
    Der düstere Zug, durchs Coldharbour Gate: die City zuerst, Ratsherren und Amtspersonen, dann die Wache. Inmitten von ihnen die Königin mit ihren Frauen. Sie trägt ein Kleid aus dunklem Damast, eine kurze Hermelinpelerine und eine Giebelhaube. Es ist wohl ein Anlass, bei dem man das Gesicht möglichst gut verbirgt und den Ausdruck unter Kontrolle hält. Diese Hermelinpelerine, kennt er die nicht? Katherine trug sie um die Schultern, als er sie zum letzten Mal sah. Der Pelz ist Annes letzte Beute. Vor drei Jahren ging sie auf dem Weg zur Krönung über ein blaues Tuch, das durch die ganze Abbey reichte, und war so hochschwanger, dass die Zuschauer den Atem anhielten. Heute muss sie sich über den rauen Grund hier bewegen, in ihren kleinen Lady-Schuhen, mit einem Körper, so leer und so leicht, und doch sind ebenso viele Hände da, um sie aufzufangen, falls sie stolpert, und sicher in den Tod zu bringen. Ein- oder zweimal zögert die Königin, und der ganze Zug muss langsamer werden, doch sie strauchelt nicht. Sie dreht sich um und sieht hinter sich. Cranmer hat gesagt: »Ich weiß nicht, warum, aber sie denkt, es ist noch Hoffnung.« Die Ladies sind verschleiert, sogar Lady Kingston. Sie wollen ihr zukünftiges Leben nicht mit dieser morgendlichen Arbeit verbunden sehen, wollen nicht, dass ihre Männer oder ihre Verehrer sie ansehen und an den Tod denken.
    Gregory ist neben ihn getreten. Sein Sohn zittert, und er fühlt es. Er legt ihm eine Hand auf den Arm, im Handschuh. Der Herzog von Richmond grüßt ihn, er steht für alle sichtbar neben seinem Schwiegervater Norfolk. Surrey, der Sohn des Herzogs, flüstert seinem Vater etwas zu, aber Norfolk starrt unverwandt geradeaus. Wie ist das Haus Howard in diese Situation geraten?
    Als die Frauen der Königin die Pelerine abnehmen, steht da nur noch eine winzige Gestalt, ein Knochenbündel. Sie sieht nicht aus wie ein mächtiger Feind Englands, doch der äußere Schein kann täuschen. Hätte sie Katherine an diesen Ort bringen können, hätte sie es getan. Hätte sie ihre Stellung behalten, wäre vielleicht auch Mary hier gelandet – und er selbst natürlich, den Mantel ablegend und auf die grobe englische Axt wartend. Er sagt zu seinem Sohn: »Es dauert nur noch einen Moment.« Anne hat unterwegs Almosen verteilt, und ihre Samttasche ist leer. Sie schiebt die Hand in die Tasche und zieht sie auf links, mit der Geste der besonnenen Hausfrau, die sich vergewissert, dass nichts weggeworfen wird.
    Eine der Frauen streckt die Hand nach dem Geldbeutel aus. Anne gibt ihn ihr, ohne sie anzusehen, und tritt an den Rand des Schafotts. Sie zögert, blickt über die Schulter zur Menge hinter sich und beginnt zu reden. Wie auf Kommando bewegen sich alle vor, kommen aber nur Zentimeter näher an sie heran. Sie halten die Köpfe gereckt und starren zu ihr hin. Die Stimme der Königin ist sehr leise, ihre Worte sind kaum vernehmbar, ihre Gefühle die gewohnten, angesichts der Situation: »… betet für den König, denn er ist ein guter, sanftmütiger, liebenswerter, tugendreicher Fürst …« Sie muss diese Dinge sagen, könnte doch in diesem Moment noch der Bote des Königs kommen …
    Sie macht eine Pause … Nein, sie ist fertig. Es ist nichts mehr zu sagen, und ihr bleiben nur noch Momente in dieser Welt. Sie holt Luft. Ihr Gesicht verrät Verwirrung. Amen, sagt sie. Amen. Ihr Kopf sinkt herab. Dann scheint sie sich zusammenzunehmen und das Zittern zu kontrollieren, das ihren ganzen Körper erfasst hat, von Kopf bis Fuß.
    Eine der verschleierten Frauen tritt neben sie und spricht zu ihr. Annes Arm bebt, als sie ihn hebt, um die Haube abzunehmen. Sie löst sich leicht, ohne Genestel. Sie kann nicht festgesteckt gewesen sein, denkt er. Ihr Haar hängt in einem Seidennetz über dem Nacken, und sie schüttelt es aus, fasst die Strähnen, hebt sie über den Kopf und windet sie zu einem Knoten, den sie mit einer Hand hält. Eine der Frauen gibt ihr eine Leinenhaube. Sie zieht sie sich übers Haar. Man würde nicht denken, dass die Haube ihr Haar hält, doch sie tut es. Sie muss es geübt haben. Aber jetzt sieht sie sich um, als wisse sie nicht weiter. Sie zieht sich die Haube noch einmal halb vom
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