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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Jahrzehnten einen Herzinfarkt erlitten hatte,
herzrhythmusgestört und kniekollapsgefährdet war, prangte an einem
Seitenfenster seines Trabants ein großer Schwerbehindertenaufkleber: ein auf
die Spitze gestelltes schwarzes Dreieck auf gelbem Hintergrund, das wie ein
amputierter Judenstern aussah. Die Frontscheibe seines Autos hätte inzwischen
auch mit vielen »100 000-km-ohne-Unfall-Plaketten« vollbesprenkelt, vielleicht
sogar undurchsichtig zugeklebt sein können - diesePlaketten gab es aber nicht
mehr. Trotzdem fuhr Onkel ONKEL bis ins hohe Alter, ohne daß es von der
Allgemeinheit gewürdigt werden konnte, tatsächlich unfallfrei. Als wir einmal
gemeinsam zum Friedhof fahren wollten, kam ich vom Bahnhof etwa fünf Minuten zu
spät. Statt auf mich in der Wohnung zu warten, saß er
eingeschnappt-vorwurfsvoll-versteinert (und angeschnallt) in seinem Wagen und
sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. Er allein schien dabei das dürftige
Innenvolumen des Trabants zu etwa drei Vierteln auszufüllen, mit seiner
schlechten Laune ohnehin ganz und gar. An sich war es also egal, ob man gerade
hundertprozentig schuldfrei war oder nicht wenn man zu ihm ins Auto steigen
mußte, tat man es grundsätzlich, auch früher schon, mit schlechtem Gewissen.
    Mein Onkel
verbrachte seine meist etwas - wenn auch maßvoll - verlängerten Wochenenden
regelmäßig in seinem Bauernhaus. Das Haus stand (ein großes Plus) etwas abseits
des Dorfes und war leider (ein großes Minus) ein beliebtes Objekt für erfahrene
oder sich einarbeitende Einbrecher. Einer der umherziehenden und die
Liberalität des neuen Staates nutzenden Kriminellen brach nach seinen kurzen
Gefängnisaufenthalten am liebsten immer wieder bei Onkel ONKEL ein. Und weil er
sich im Haus immer gut benommen und dort ordentlich gewirtschaftet hatte
(»Krümel gefegt!«), schloß ihn mein Onkel irgendwann in sein rhythmusgestörtes
Herz. Während der letzten und leider etwas längeren Haftzeit schrieb ihm Onkel
sogar Briefe, schickte auch einige Päckchen.
    Bei der
Fahrt zu seinem Haus nahm mein Onkel immer, also auch in den letzten fünfzehn
Jahren seines Lebens, als er ein signalgelb-stolzer, trotzdem aber alles andere
als lahmer Invalide war, grundsätzlich eine wilde Abkürzung durch den Wald.
Trotz des geduldigen Zuredens seiner Töchter fuhr er nicht gern durchs Dorf,
scheute einfach den lästigen Umweg über die Landstraße. Er könne die
Waldstrecke blind fahren, argumentierte er. Dabei gab es auf dem Waldweg doch
immer wieder Unfälle. Die wassergefüllten Schlaglöcher waren tief, der Huckel
in der Mitte des Weges war hochgewölbt und riß regelmäßig den einen oder
anderen Auspuff ab, beschädigte den einen oder anderen Unterboden; auf dem Weg
lagen oft dicke Äste herum, die sich unter den Rädern unerwartet aufrichten
konnten. Daß sein Trabant außerdem dauernd neue Kratzer abbekam, nahm Onkel
ONKEL gelassen auf - seine Karosserie war nun mal aus Plastik.
    Wirklich
ernste Gefahren gingen sowieso eher von anderen Autofahrern aus. Auf dieser
Strecke gab es nur wenige Stellen, an denen man den entgegenkommenden Autos
ausweichen konnte. Und die vitalen Büsche an den Seiten, die niemand beschnitt,
das teilweise hohe Gras und die übrige Vegetation machten den Weg zu einem
regelrechten Tunnel. Die Natur wucherte den Weg teilweise so drastisch zu, daß
man dort oft nicht nur nicht ausweichen, sondern die vielen Kurven erst im
allerletzten Moment einsehen konnte. Und wo das Gras über die ganze Breite des
Weges wuchs, war die Piste auch im trockenen Zustand extrem rutschig. Zwei
andere Prager, beide ebenfalls Trabantfahrer, stießen dort einmal frontal
zusammen. Beide hatten an einer Stelle - so wie jeder, der sich dort auskannte
- kräftig beschleunigt, um eine besonders feuchte Mulde mit Schwung zu nehmen.
Und sie konnten dann nur zusehen, wie sie trotz der gleichzeitigen
Doppel-Vollbremsung dem zweifachen Totalschaden entgegenrutschten.
    Der
umsichtige Onkel ONKEL blieb von solchen dummen Zufällen verschont, ihm ist nie
etwas derartiges zugestoßen. Trotzdem wurde eine seiner Fahrten zu seinem Haus
doch seine letzte. Er hatte alle Problemzonen im Inneren des Waldes wie ein
erfahrener Rallye-Fahrer passiert und gekonnt auch die letzte Kurve genommen -
laut Polizei mit einem Rad auf der Böschung und dem anderen auf demHuckel in der
Mitte des Weges. Auf der abschüssigen und endlich gut überschaubaren Strecke
schlug die Pechfalle dann zu, Onkel ONKEL machte eventuell
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