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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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kapitalistischen Elemente des Landes - und auf diesen
Kahlschlag sollten alle auch noch stolz sein. Dabei traf und bestrafte dieser
Radikalschritt fast die Hälfte der damaligen Bevölkerung. An diesem Tag
besuchte ich manchmal - wenn nichts dazwischenkam oder ich es nicht vergaß -
die tapfere Amerikanerin Garrigue Masaryk, die Frau unseres ersten Präsidenten.
Daß ihre Büste die Beseitigungs- und Bereinigungswut der fünfziger Jahre
überstanden hatte, war tatsächlich ein kleines Wunder. Diesmal kam ich gar
nicht dazu, zu der relativ hoch angebrachten Büste aufzublicken. Ich traf meine
Frau, die gerade aus der Haustür trat.
    - Ich
wohne dort drüben, sagte ich.
    - Ich
weiß, und du heißt Georg. Ich habe von dir schon viele schlimme Dinge gehört.
Ich wohne hier auch schon ewig. Du warst irgendwann längere Zeit weg, oder?-
Ich bin in die Slowakei geflüchtet, war dort klettern und so.
    - Also
sinnlos dein Leben riskiert...
    - Prag ist
doch furchtbar, überall nur Magengeschwüre und Mundgerüche. In den Bergen habe
ich nebenbei aber auch etwas Kultur, einmal sogar ein tolles Konzert erlebt. Du
warst einige Jahre aber auch nicht hier.
    - Ich war
in einer Art Internat, und dann habe ich noch woanders studiert. Übrigens
ziehst du dich unmöglich an, weiß du das? In dieser Lederjacke siehst du aus
wie eine Apfelsine auf Stelzen.
    - Wieso
haben wir uns früher nie auf dem Tor oder im Park getroffen?
    - Ich war
auf einer Schule für besonders Fleißige.
    - Also
auch nachmittags.
    - Auf
jeden Fall länger. In die Nähe dieser Klettermauern durfte ich sowieso nicht,
auf das Tor schon gar nicht. Dort trafen sich ganz schlimme Typen, haben sich
mit Steinen beworfen.
    - Das war
eher die Affenbande, aber auch noch andere ...
    - Und du?
    - Wir sind
zur Abwechslung vom Tor gefallen und waren tot. Und haben Bomben gebastelt.
Aber ich habe dort oben oft Gitarre gespielt, stundenlang gesungen und
gebrüllt. Das hättest du sogar von weitem hören können.
    - Manche
Idioten pißten manchmal von oben, standen an der Kante und pißten. Und dort
gibt es überhaupt kein Geländer.
    - Du
sagtest vorhin, du hättest von mir irgend etwas gehört. Was zum Beispiel?
    - Das und
jenes. Ich bin einfach neugierig.
    - Von mir
wirst du im Moment nicht viel erfahren. Ich bin ein bißchen verstummt, singe
auch nicht mehr.
    - Aber du
sprichst doch, Georg.
    - Lachen
tue ich auch viel weniger.- Bei euch wurde aber viel gelacht. Ich habe es bis
zu uns gehört, wenn hier unten gerade kein Auto fuhr.
    - Und was
heißt das? fragte ich.
    - Du mußt
es geübt haben, das Lachen.
    - Du warst
für mich so etwas wie die Enkelin von Masaryk, jedenfalls ein
Nachkommensfrüchtchen von Frau Garrigue. Das kann ich dir jetzt amtlich
mitteilen. Als deinen Vater wollte ich mir keinen der Zwillinge vorstellen,
weil ich sie nie unterscheiden konnte. Ich dachte eher an einen Nachkommen
eines Freiheitskämpfers, du weißt schon ...
    -
Mickiewicz? fragte sie.
    - Richtig.
    - Ich habe
keine Lust zu rätseln, ich möchte einiges einfach wissen, sagte sie ernst.
    - Was
denn?
    - Ist
dieser unbewegliche Dicke mit den nackten Beinen auf dem Nierentisch irgendein
Stiefvater von dir?
    - Nein!
Das ist mein Onkel, DER Onkel - der einzige Mann außer mir. Handwerklich ist er
ein sehr begabter Mensch, vor allem aber ein mutiger. Nur sieht man ihm das
nicht unbedingt an.
    - Und sag
mal - ist dieser Onkel so etwas wie ein Ausdauerschweißer? Das war immer meine
Hypothese.
    - Nein. Er
kann aber gut schweißen.
    - Mein
Vater meinte dagegen, der Weißbeiner würde in seinem Zimmer mit Chemikalien
experimentieren - und hätte deswegen diesen Lüfter.
    - Der
Rauch kommt von seiner Pfeife - und seinem Unglück.
    - Und wer
ist die Frau mit den wirren Haaren und wilden Gesten?
    - Das ist
Urtante Bombe. Frag mich aber bitte nicht, warum sie so heißt.
    - Und wer
ist die, die nur im Hochsommer lüftet?
    - Tante
Györgyi, die friert immer. Und hat Angst, daßihre Wände - »die Wände, die
Wände« - abkühlen und Kälte speichern könnten.
    - Noch
etwas: Ab und an wurden bei euch ältere Frauen auf dem Balkon ausgesperrt. Auch
im Winter.
    - Das hing
mit familienexternen Unverträglichkeiten oder irgendwelchen Absprachen
zusammen. Manchen Bekannten mußte man versprechen, daß sie eine bestimmte
Person nicht antreffen würden - in der Regel ging es um Tante Erna. Die ist
einmal steif ins Zimmer gefallen, als man sie wieder reinlassen wollte. Sie
hatte ihren Mantel vergessen und traute sich
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