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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Nach der Entlassung und der Rückkehr blieb sie noch eine Zeitlang zu
Hause, zog aber bald aufs Land in Danas Haus. Sie sollte sowieso für längere
Zeit krankgeschrieben bleiben. Und als Verfolgte des Naziregimes wollte sie
sich dann berenten lassen.
    In der
Prager Wohnung stand mir logischerweise ihr Prachtzimmer zu. Es war großartig,
ein wahrhaftes Geschenk des Himmels - ich fühlte mich kurzzeitig wie nach einer
epochalen Eroberung. Bleiben wollte ich zu Hause aber auf keinen Fall. Alle
machten mir sowieso direkt oder indirekt Vorwürfe, obwohl der Schlaganfall bei
unseren Vorfahren kein seltenes Ereignis war - und der Schlaganfalltod bei uns
als der schönste von allen galt, oft sogar herbeigewünscht wurde.
    - Ausflug,
Ausflug, das hat sie jetzt von deinem blöden Ausflug, Georg.
    - Das
hätte sie umbringen können, hörte ich hinter einer Tür.
    - Sie hat
doch das ganze Leben furchtbar viel geraucht.
    -
Trotzdem.
     
    manchmal
lief der mann gleichzeitig in zwei entgegengesetzte richtungen
    Ich war in
meinem früheren Leben von Frauen - bis auf einige kurze Intermezzi - dauerhaft
umstellt, und wenn ich dabei von ihren Röcken, Gerüchen, gleichzeitig auch von
Sheldrakeschen Feldern ihrer Freundlichkeit umwedelt wurde, mußte ich nie
fürchten, mir könnte etwas Schlimmes zustoßen. Direkt von ihnen gingen in
meinem Fall nie ernste Gefahren aus - offen verletzende Aggressionen sowieso
nicht. Ihre kleinen Verstimmtheiten oder leichten Eitelkeitsanfälle ängstigten
mich ebenfalls nicht. Was aber regelrecht rettend war: In allen wichtigen
Phasen meines Lebens fand sich im richtigen Moment das richtige weibliche Wesen
an der passenden Stelle ein. Als ich einmal auf der offenen breiten Plattform
eines Straßenbahnanhängers stand, hielt ich mich, wie oft, nicht fest. Die
Plattform lag in der Mitte des Wagens, man fühlte sich dort ausreichend
geborgen und vor unerwartetem Rauswurf geschützt. Die Fahrten zu meinem Vater
waren furchtbar lang, führten durch die ganze Stadt, und ich kannte die vielen
Stationen, Streckenabschnitte und alle ihre Problemstellen so gut wie
auswendig. Trotzdem paßte ich nicht immer auf. Die Straßenbahnen wurden damals
teilweise von jungen, im zweimonatlichen Schnellkurs angelernten Kräften
»gelenkt«. Im Grunde brauchten diese Leute nur »Gas« zu geben oder zu bremsen -
und hatten laut Straßenverkehrsordnung außerdem überall und immer Vorfahrt. Und
weil diese Kolosse wegen ihrer Masse sogar von Lastwagenfahrern respektiert
wurden, hätten sie durch die Stadt theoretisch in aller Ruhe gondeln können.
Die jungen Wagenlenker wollten aber oft auch etwas schneller fahren als
erlaubt, hatten sich alleSchwachstellen der besonders tückischen Kurven und
alle Problempunkte der scheinbar geraden Strecken noch nicht fest eingeprägt.
Oder sie vergaßen beim Träumen über ihre Zukunft einfach, daß auch die
nötigsten Ausbesserungen und Begradigungen der Schienen sich immer noch in der
Planungsphase befanden. Oft zuckten der Triebwagen und dann die Anhänger
unerwartet heftig zur Seite. Die Räder ratterten und rumsten dabei - und der
noch mit viel Holz ausgekleidete Wagenkörper quietschte laut. Einmal bewahrte
mich vor einem Hinauswurf auf die Straße eine ältere Dame, die direkt vor mir
stand. Diese dickliche Person hielt sich auch nicht fest, wir beide wären
beinah unter die vorbeifahrenden Autos geschleudert worden. Die Frau fand im
letzten Moment den Griff am Rand der Plattform, und ich, der kurz davor noch
konzentriert in die Ferne gesehen hatte, stolperte erst einmal über ihre
abgestellte Tasche. Auf die weichgepolsterte Frau fiel ich deshalb etwas
verspätet, dafür mit zusätzlicher Energie. Die Straßenbahn war in voller Fahrt,
der rasende Abgrund ganz nah. Die Frau kommentierte den Vorfall mit dem
folgenden Satz: - Du wärest wenigstens auf etwas Weiches gefallen.
    In meinem
Schreck bedankte ich mich für die Rettung nicht einmal. Beim Nachdenken war ich
nie der Schnellste und konnte auch in diesem Moment aus mehreren Gründen nicht
sofort reagieren. Die Wahrscheinlichkeit, grübelte ich, nicht auf der Frau,
sondern neben ihr auf der Granitpflasterung zu landen, wäre um ein Vielfaches
größer gewesen. Und auch wenn ich mich an der Dame festgekrallt hätte, hätte es
bei dem entscheidenden Aufprall auch ganz anders kommen und ich als
Pflasterpuffer unter ihr enden können. Trotz aller dieser Bedenken habe ich ihre
Liebenswürdigkeit nie vergessen.
    »Die Frau
wählt« - das
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