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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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dominierte Familie von
gegenüber berichtete Erna selten, aber kontinuierlich. Daß die zwei Brüder
schöne Männer waren, war bei uns ohnehin ein Dauerthema, von größerer Tragweite
war aber etwas anderes: Dank Erna wußten wir, daß der Familie vor vielen Jahren
ein Kind verlorenging. Es war irgendwo von einer Terrasse gefallen und hatte
den Sturz nicht überlebt. Für die ältere Schwester des Tötlings waren die
Fenster deswegen tabu. Als sie größer wurde und über die Fenster-Unterkante
blicken konnte, mied sie die Nähe der Fensteröffnungen offensichtlich um so
mehr. Draußen hatte sie sicherlich - wenn überhaupt - nur im Hof ihres Hauses
gespielt. Als ich klein war, fiel sie mir in der Nachmittagswildnis der
Umgebung nie auf, außerdem ging sie offenbar in eine andere Schule. Hinzu kommt
noch, daß ihre Straßenseite die langweiligere war, und ich kannte dort
niemanden. So überquerte ich ihre Mickiewiczstraße nur, wenn ich Frau Garrigue
Masaryk einen Besuch abstatten und ihr in die Augen sehen wollte.
    Das
Kurioseste an der Dachgeschoßfamilie war die exzentrische und uns persönlich
vollkommen unbekannte Mutter des Mädchens, also die Frau eines der Zwillingsbrüder.
Sie lebte angeblich allein in einem Schloßturm. Vor Jahren hatte sie die
Wohnung, ihre drei Männer und die übriggebliebene Tochter verlassen - von einem
Tag auf den anderen - und war nie wieder zurückgekommen. Sie hattein Südböhmen
den Direktor eines Schloßmuseums gekannt, dieser hatte für sie eine Art
Arbeitsstelle geschaffen - und sie konnte in einem Turm des Schlosses wohnen
bleiben.
    Von ihrer
Tochter sah ich in späteren Jahren manchmal die Haare, noch später ihren ganzen
Kopf - allerdings immer nur abgedunkelt im Rauminneren. Mit unserem Opernglas
beforschte ich bei günstigeren Lichtverhältnissen auch ihr Gesicht. Solche
erregenden Momente, die man beim Genießen von nur fragmentiert gelieferten
Bildern, beim Verfolgen von Echtzeit-Abläufen, von Klein-, Groß- oder
Scheindramen erleben kann, wollte ich auch später im Leben nicht missen. Man
hört regelrecht das optische Knistern, Rascheln oder Rumoren, das die Akteure
in der gegenüberliegenden Wohnung produzieren, und man ist nebenbei sogar
gezwungen, mit den Beobachteten aktiv mitzudenken. Man füllt das scheinbar
sinnlose Hantieren der Leute behelfsmäßig mit Sinn auf und ergänzt ihre
pantomimischen Unterhaltungen durch möglicherweise passende Worte. Was das
nicht mitgelieferte Gefühlsgefüge angeht, ist man natürlich nur auf die eigene
Phantasie angewiesen. Der weiteren Ausschmückung sind dabei keine Grenzen
gesetzt.
    Nachdem
meine zukünftige Frau aus der kindlichen Versenkung aufgetaucht war, fand ich
sie nicht einfach nur interessant. Das zusätzlich Anziehende an ihr war, daß
ihr und ihren Männern - trotz Ernas Zuarbeit und trotz aller fernoptischen
Eindrücke - ungewöhnlich viele Fragezeichen anhafteten. Die beiden
Zwillingsmänner waren bei Ernas Vorstößen sehr zurückhaltend gewesen, und ihr
alter Vater, der oft die Einkäufe erledigt hatte, hatte auf sie immer einen
mürrischen Eindruck gemacht. Das Besondere an dieser Familie war noch, daß sie
für mich in einer Art Parallel-Vergangenheit lebte. Das folgende Phänomen
kannte ich auch aus anderen Zusammenhängen: Wenn in meiner Gegenwart von
Personen - Personen aus der Gegenwart - gesprochen wurde, die ich persönlich
nicht kannte, nahm ich oftautomatisch an, es handele sich um Menschen aus der
fernen Vergangenheit - im Grunde um bereits verblichene Wesen. Wenn ich diese
Menschen später traf, hatte ich als erstes das nicht ganz falsche Gefühl,
Untoten aus dem Jenseits gegenüberzustehen.
    Meine
zukünftige Frau war ausgesprochen untot, als ich mit ihr das erste Mal sprechen
konnte. Aus der Nähe war sie noch beeindruckender als aus der Ferne, war
allerdings ungewohnt direkt - um nicht FRECH zu sagen. Wir trafen uns an einem
28. Oktober.
    Die dank
T. G. Masaryk vollzogene Staatsgründung im Oktober 1918 wurde in der
sozialistischen Tschechoslowakei nicht gefeiert. Dieser Tag wurde uns im Grunde
verschwiegen, weil 1918 ein kapitalistisch ausbeuterischer Staat gegründet
worden war. Man legte dafür den großen Tag der Liquidierung der prosperierenden
tschechischen Wirtschaft auf denselben Tag, und der 28. Oktober wurde zum »Tag
der Verstaatlichung« erklärt, die im Tschechischen offiziell
»Vernationalisierung« hieß. Man feierte also die damalige flächendeckende
Enteignung aller
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