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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Risse bekommen. Aber der Sommer ist sowieso noch weit.
    Danach
wurde der leicht angetrunkene Mann nachdenklich und sagte etwas betrübt:
    - Merke
dir eins. Junge. Wirklich hart wird Beton erst in vierzig Jahren, erst nach
vierzig Jahren erreicht er seine endgültige Reife. Da werde ich schon ganz
woanders sein.
    Erstaunlicherweise
war Onkel ONKEL nach vierzig Jahren - das friedliche Einschlummern des
Sozialismus lag da schon über zehn Jahren zurück - immer noch am Leben. Nur der
frauliche Teil der Großfamilie existierte nicht mehr. In der alten Wohnung
nicht, auch in Altersheimen lebte keine einzige meiner Tanten. Onkel ONKEL war
der letzte Repräsentant meiner Eltern- und Tanten-Generation, ein phänomenaler
Überlebenskünstler. Für mich persönlich war er so etwas wie ein Held seines
singulären Pfeifenrauch-Holocaust. Die drei Grundprinzipien seiner
Kampfstrategie gegen den Tod lauteten: Schonung, Schonung, Schonung. Onkels
Frau Eva war auch schon lange tot. Sie starb an Krebs, und weil sie ihr ganzes
Leben zu allen Menschen ohne Ausnahme - auch zu den ausgesprochenenEkelpaketen
unter ihnen - immer so gut gewesen war und sich dauernd aufgeopfert hatte,
endete das Leben dieser gebildeten und feinen Dame in purem Haß. Ihr asexuelles
Leben in ihrer engen Kammer war insgesamt mehr als trostlos verlaufen -
glückreduziert war es auf alle Fälle. Bei einem anderen Lauf der Geschichte
wäre sie sicher eine bekannte Medizinerin und Wissenschaftlerin geworden.
Leider hatte sie sich nach dem Krieg entschlossen, dem neuen Staat möglichst
umgehend und unmittelbar zu dienen - und entschied sich gegen ein »viel zu
langes« Medizinstudium. Sie wurde Ökonomin, machte Karriere in einem
Forschungsinstitut, alle Katastrophen waren damit vorprogrammiert. Bis zum
achtundsechziger Einmarsch waren es nur die wirtschaftlichen, danach kam ihr
ganz persönlicher Absturz - im Rahmen der politischen Massenentlassungen,
versteht sich. Folgerichtig beschimpfte sie in den letzten Wochen ihres Daseins
nicht nur ihn, ihren nur mit seinen Pfeifen verwachsenen Mann, sondern auch
ihre Töchter und deren Kinder, die sie allesamt als Raubtiere, bestenfalls als
parasitäre Egoisten einstufte. Auch ich wurde den vielen Schweinehunden dieser
Welt zugeschlagen und am Sterbebett nicht empfangen.
    So wie
früher, wenn im Umkreis der Familie jemand gestorben war, ließ der Onkel auch
beim Begräbnis seiner Frau die verfettet-weiche Muskulatur seines Gesichts kurz
nach unten sacken. Seine hängenden Backen sollten - in der Manier einer
Trauerweide - tiefe Verzweiflung ausdrücken. Einen Augenblick später konnte er
wieder so vollständig lächeln, wie es ihm nach seinem langen Leben voller
Mimik-Minimalisierung nur möglich war. Die federkernlosen, daher auch
spannungsfreien Polster seines Gesichts waren selbstverständlich schon seit
Jahrzehnten dabei, den Großteil von Onkels Regungen zu absorbieren - falls
diese in ihm überhaupt aufgekommen und von ihm freigegeben worden waren.
Überraschenderweise konnteman meinem Onkel einiges trotz seines unkernigen
Pappgesichts problemlos ansehen. Seine würdegeladene Dauerselbstmitleidsmiene
wirkte dabei nur wie eine transparente, dümmlich verteidigte Folie. Als ich es
als Erwachsener einmal gewagt hatte, einen vorsichtigen Scherz auf seine Kosten
zu machen, verblüfften mich seine ganzkörperliche Verunsicherung und das
wehrlose Entsetzen in seinen Augen. Und ich wagte es NIE WIEDER, ihn am
lebendigen Leib der Gefahr der Beschämung auszusetzen. Auch deswegen, weil es
dank seines lächerlichen Äußeren viel zu einfach gewesen wäre: Er trug
überdimensioniert große Brillen, seine buschigen Koteletten verfilzten sich oft
mit seinen steifen Ohrmuschelhärchen, und seine kurzen Dreiviertel-Mäntel
hingen über seinem Bauch wie eingelaufene Fünf-achtel-Jacken.
    Irgendwann
hatte es der Onkel ONKEL nicht mehr nötig, den anderen etwas vorzugaukeln, weil
er nun mal vollkommen allein war. Er bewohnte zum Schluß als der letzte
Mohikaner einen abgetrennten Teil der Wohnung zum Norden hin, die übrigen
Zimmer wurden teilvermietet. Seine Töchter und Enkelkinder sah er kaum. Seine
Herzrhythmusstörungen bekam er mit einer üblen Regelmäßigkeit und war außerdem
wegen seiner wackligen Knie nur eingeschränkt mobil. Trotzdem blieb er
wenigstens partiell unternehmungsfreudig. Er besaß schon seit vielen Jahren
keinen Wartburg, sondern einen Trabant - den zweitbesten Zweitakter der Welt -,
und da er vor vielen
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