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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Autoren: Niklas Maak
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an die frische Luft, mit anderen Kindern spielen, aber dazu hatte er keine Lust.
    Dann passierte etwas Erstaunliches: Die Pubertät verschob seinen Babyspeck so vorteilhaft, dass er zu einer Zeit, als seine Klassenkameraden, überrascht vom plötzlichen Einschlag der Wachstumshormone, noch dürr, ungelenk und windschief im Raum standen,aussah wie eine verkleinerte Ausgabe von Marlon Brando. Er begann, Lederjacken zu tragen, lungerte vor Eisdielen herum, stopfte Unmengen an Geld in Jukeboxes und trug Jeans, die im Schritt spannten – sein Onkel sprach von »Nietenhosen«, was auch und vor allem als moralisches Verdikt zu verstehen war.
    Ein paar Jahre später belegte Bellmann einen Rock-’n’-Roll-Kurs und kaufte sich von dem Geld, das er während eines langen Sommers in einer Schraubenfabrik verdient hatte, einen Motorroller mit verchromten Außenspiegeln. Im darauffolgenden Jahr wurde er nicht nur ein Meister des Kick-Ball-Change , sondern gewann zum Erstaunen seiner wenigen Freunde einen Tanzwettbewerb nach dem anderen.
    Was Bellmann beim Tanzen veranstaltete, war atemberaubend. Seine Beine ratterten wie führerlose Presslufthämmer über das Parkett, seine Tolle wurde zu einem dunklen Tornado, seine Knie rasten wie bissige Hunde umeinander; die Mädchen kicherten, wenn sie ihn tanzen sahen, und wurden rot, wenn er sie aufforderte; die Jungen aus seiner Klasse standen in gestärkten Hemden und grauen Flanellhosen am Rand und kochten vor Wut; sie wussten, sie würden nie tanzen können wie er, und erklärten das Tanzen deshalb zur Mädchensache.
    Auch seine Mutter hielt von der Tanzerei nicht viel, freute sich aber, dass ihr Sohn nicht mehr den ganzen Tag in seinem Zimmer saß; wenn er abends nach Hause kam, küsste sie ihn auf die Stirn und machte ihm Kartoffelsuppe mit Wurststücken und eine Nachspeise, die sehr chemisch schmeckte.
    Dann lernte er Ingrid kennen. Sie kam aus Ludwigshafen, und seit sie ihre beachtlichen Haarmengen hatte bleichen lassen, nannte man sie die Marilyn von Mundenheim. Schwärme hoffnungsvoller, unausgeglichener junger Männer verfolgten sie auf ihren Motorrollern, und wenn sie schließlich mit ihrer Vespa die Villa ihres Vaters erreichte und sich ein letztes Mal umdrehte, schaute sie in eine von unduldsamem Zweitaktknattern unterlegte Armada schwarzer Sonnenbrillen.
    In den Cafés, im Rialto oder im Excelsior, war Ingrid fast nie anzutreffen, weil sie entweder zu Hause oder mit den amerikanischenSoldaten unterwegs war, und so blieb den Jungen nichts anderes übrig, als sie aus der Ferne zu betrachten. Wenn sie im Freibad ihre Beine eincremte und dann wie eine Lenkrakete vom Fünfmeterturm senkrecht hinunter ins Wasser schoss, dann war das ein Ereignis, über das auf den Schulhöfen der Stadt noch wochenlang in allen Details geredet wurde: Der Schwung ihrer Hüften beim Betreten des Sprungbretts, die Sommersprossen auf ihrem Dekolleté, die einer Sternenkonstellation ähnelten, die blonden Härchen auf ihren Unterarmen, die Narbe an ihrer rechten Wade – wie Weltraumforscher anhand unscharfer Fotos die Oberfläche eines unbekannten Planeten sondieren, wurde jedes Detail ihres Körpers in zermürbenden Sitzungen besprochen, in der Hoffnung, ihrem Geheimnis näherzukommen. Auf den Fotos von damals sieht man ein lächelndes Mädchen; ihre Haare fallen über die dunklen Augen und auf die braungebrannten Schultern wie ein seltsames, von innen glühendes Gegenlicht.
    Damals war Bellmann sehr dünn; er trug eine gigantische, mit verschiedenen Ölen penibel gepflegte Tolle, die etwa zehn Zentimeter über die Stirn hinaus in die Luft ragte wie bei einem Einhorn; wenn sie tanzten, wippte sie ihm ins Gesicht, und morgens, beim Aufstehen, hing sie wie ein durcheinandergeratener Zopf über seinem linken Auge. Er trug jetzt meistens weiße T-Shirts, in denen er auch schlief, und darüber eine schwere amerikanische Lederjacke. Sie war oft bei ihm, obwohl sie mit dem fröhlichen Bekenntnis, nicht kochen zu können und es auch nicht lernen zu wollen, den ewigen Groll seiner Mutter auf sich gezogen hatte. Er ertanzte mit ihr sämtliche Medaillen, die die junge Rock-’n’-Roll-Gemeinde seiner Stadt zu vergeben hatte, absolvierte in einer atemberaubend kurzen Zeit ein Medizinstudium und bekam eine gut bezahlte Stelle im städtischen Krankenhaus. Einen Sommer später heirateten sie. Bei ihrer Hochzeit sang sie »To Know Him Is To Love Him« von den Teddy Bears, und in den Bänken des Standesamtes weinten
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