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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Autoren: Niklas Maak
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großen, hellblauen Swimmingpool und Palmen, die im April auf die Terrasse gestellt und Ende September in die beheizte Garage getragen wurden. Das Haus war Amerika: der Kamin sein Lagerfeuer, der Pool seine Quelle, das flache Betondach sein Zelt, das Auto neben dem Pool sein Pferd. Nichts erinnerte auf diesem Grundstück an Norddeutschland bis auf die grünen Spuren, die das Moos der Kiefern an der Dachrinne und an der Nordwand des Hauses hinterlassen hatten – aber Moos gab es schließlich auch in Amerika.
     
    Er hatte mehrmals versucht, einen deutsch-amerikanischen Ärzteclub zu gründen, aber die Briefe, die er an verschiedene Fakultäten geschickt hatte, waren größtenteils unbeantwortet geblieben. Das einzigeResultat des ehrgeizigen Plans waren die regelmäßigen Besuche von Walter Hancock, einem alleinstehenden Militärarzt, der nach dem Krieg mit einer Einheit der US-Armee in die Gegend gekommen war. Hancock kam gerne zu ihnen; das Haus erinnerte ihn an seine Heimat, und er mochte die Art, mit der Ingrid sich um ihn kümmerte wie um ein zugelaufenes Tier, das dringend ihrer Pflege bedurfte. Je häufiger Hancock kam, desto schweigsamer wurde er. Er verfolgte höflich Bellmanns Theorien zur Lage der Welt, putzte hin und wieder seine dicke Brille und genehmigte sich vier bis fünf Scotch, bevor er am Pool vorbei zur Auffahrt torkelte und sich in seinen Chevrolet fallen ließ.
     
    Manchmal besuchten sie ihn. Dann kam es vor, dass sie eigenmächtig Schallplatten auflegten oder die vom Gastgeber nicht grundlos leise eingestellte Musik ungefragt aufdrehten, und wenn sie bei gutem Wetter in seinem Garten sitzen mussten, bekamen sie einen gehetzten Gesichtsausdruck, wippten ungeduldig mit dem Fuß und trommelten mit den Fingern Basslinien auf den Tisch; ihr eigentlicher Zustand war die ständige Bewegung.
     
    Sie hatten sich beim Tanzen kennengelernt – nicht im Norden, wo sie später lebten, sondern in Mannheim. Bellmanns Vater war im Krieg gefallen, jedenfalls hatte seine Mutter ihm das erzählt. Er selbst hatte keine Erinnerung an ihn, beziehungsweise war das, was er für seine Erinnerung hielt, nur die verinnerlichte Betrachtung der wenigen Fotografien aus dem Jahr 1940, die ihn mit seiner Mutter und seinem Vater zeigten. Die Mutter bewahrte sie in einem schweren Album auf, dessen erste fünf Seiten einen hochgewachsenen, blonden Mann in Wehrmachtsuniform zeigen, der seinem Sohn, der auf einem Schaukelpferd sitzt, die Hand auf die Schulter legt. Auf den weiteren Bildern sieht man den Vater mit der Mutter, einer blassen, stämmigen, auf eine handfeste Art hübschen Frau mit einer Stupsnase und feinen braunen Locken. Sie schlingt ihre Arme um die Hüften des Mannes; sie trägt eine Spange im Haar, der Vater schaut, wie auf allen Fotos, streng hinter einem markanten Kinn hervor und lacht nicht.
    Die restlichen Seiten des Albums sind leer, nur auf der hinteren Seite liegt ein getrocknetes Kleeblatt. Bellmanns Vater, erzählte ihm die Mutter, sei 1941 bei Kämpfen an der Ostfront gestorben. Später erfuhr er, dass sein Vater bei einer Truppenverlegung aus dem Zug gestürzt war. Er erfuhr auch, dass dort, wo sein Vater war, ein Massaker stattgefunden hatte.
     
    Seine Mutter heiratete nie wieder. Nach dem Krieg arbeitete sie in einem Kolonialwarenladen an einer stark befahrenen Kreuzung in der Innenstadt von Mannheim und zog ihren Sohn allein groß. Die Amerikaner, die ihn manchmal vor der Tür ihrer kleinen Wohnung absetzten, würdigte sie keines Blickes. Er konnte sich nicht erinnern, dass er seine Mutter einmal hatte lachen sehen.
     
    Ihr Haar war früh grau geworden, sie schwieg viel und saß oft bekümmert über Abrechnungen und Belegen, die sie spätabends, nach der Arbeit, auf der Wachstuchdecke des Küchentisches ausbreitete. Jeden Samstag machte sie ihm einen Kuchen aus Keksen und Fett und Kakao, den sie Kalten Hund nannte. Sie aßen ihn am Sonntagnachmittag. Manchmal kam ein Onkel mit einem rötlichen, hageren Gesicht, der nach Rasierwasser roch, auf einen Kaffee vorbei; manchmal, wenn sie allein waren, zündete sie eine Kerze an und las ihm Geschichten aus Tausendundeiner Nacht vor.
     
    Das Haus, in dem sie wohnten, stand in der Nähe der amerikanischen Kasernen. Schon damals liebte er die Amerikaner und ihre breiten, verchromten Autos, ihre Uniformen und ihre Musik. Er war ein pummeliges Kind mit mortadellaweichen Armen, und er war oft krank. Der Schularzt sagte, der Junge müsse Sport treiben, mehr
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