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Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten

Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten

Titel: Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten
Autoren: Armistead Maupin
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Heim und Herd
    Es gab natürlich immer wieder Fremde, die steif und fest behaupteten, daß San Francisco eine Stadt ohne Jahreszeiten war, doch Mrs. Madrigal schenkte dem keine Beachtung.
    Warum auch, die Frühlingsboten waren doch überall zu sehen!
    Die chinesischen Schuljungen zum Beispiel, die mit nagelneuen grün-gelben Baseballmützen auf ihren Skateboards den Russian Hill hinuntersausten.
    Und was war mit dem alten Mr. Citarelli? Nur wer schon lange in San Francisco lebte, konnte wissen, daß Mr. Citarelli exakt zu dieser Zeit im Jahr seinen Lehnstuhl in die Garage schleppte, das Tor aufmachte und sich in die Sonne setzte. Auf Mr. Citarelli war unendlich mehr Verlaß als auf jedes Murmeltier.
    In der Barbary Lane selbst wurde die Frühjahrstagundnachtgleiche von einer uralten scharlachroten Azalee neben den Mülltonnen angekündigt, die wie ein Freudenfeuer leuchtete. »Du meine Güte«, sagte Mrs. Madrigal, als sie stehenblieb, um die Tüte mit ihren Einkäufen besser zu fassen. »Du schon wieder?« Die Azalee hatte auch im August und Dezember geblüht, aber der Natur verzieh man immer, wenn sie von etwas Schönem zuviel bescherte.
    Als Mrs. Madrigal das Gartentor von Nummer 28 erreichte, blieb sie unter dessen Spitzdach stehen und betrachtete ihr Reich – die bemooste Ziegelfläche des Vorgartens, die illegale Üppigkeit ihres »Kräutergartens«, den Efeu und die braune Schindelfassade ihres geliebten alten Hauses. Der Anblick begeisterte sie immer wieder.
    Sie stellte die Lebensmittel – drei neue Käse von Molinari’s, Glühlampen, Focaccia-Brot, Tender Vittles für Boris – in der Küche ab und eilte ins Wohnzimmer, um Feuer zu machen. Warum auch nicht? In San Francisco war ein Feuer zu jeder Jahreszeit angenehm.
    Das Kaminholz – ein ganzer Klafter – war ein Weihnachtsgeschenk ihrer Mieter, und Mrs. Madrigal ging damit um, als würde sie in Fort Knox mit Goldbarren hantieren. Sie hatte allzulange unter der Zumutung der grauenhaften Dinger aus gepreßtem Sägemehl gelitten, die es im Searchlight Market zu kaufen gab. Dank ihrer Kinder hatte sie jetzt ein Feuer, das auch knisterte.
    Es waren natürlich nicht ihre richtigen Kinder, aber sie behandelte sie so. Und sie schienen sie in ihrer Mutterrolle zu akzeptieren. Ihre richtige Tochter Mona hatte in den späten siebziger Jahren eine Zeitlang bei ihr gelebt, war aber vor einem Jahr nach Seattle gezogen. Ihre Begründung war gewohnt kryptisch gewesen: »Weil … na ja, weil’s die Achtziger sind, deshalb.«
    Arme Mona. Wie viele ihrer Altersgenossen hatte sie die Achtziger zum Schlagwort und das neue Jahrzehnt zum Götzen erhoben und erhoffte sich so etwas wie Seelenheil und die Befreiung von ihrer düsteren Daseinsvorstellung. Doch ob Mona die Achtziger in Seattle verbrachte oder in San Francisco … oder auch in Sheboygan … das änderte nichts. Nur konnte ihr das keiner sagen. Mona hatte sich nie von den Sechzigern erholt.
    Der Vermieterin ging durch den Kopf, daß ihre Ersatzkinder – Mary Ann, Michael und Brian – sich ihre Unschuld irgendwie bewahrt hatten.
    Und sie liebte sie von ganzem Herzen dafür.
     
    Ein paar Minuten später stand Michael vor ihrer Tür, in der einen Hand den Scheck für die Miete, in der anderen Boris.
    »Ich hab ihn auf dem Fenstersims entdeckt«, sagte er. »Er hat leicht selbstmordgefährdet ausgesehen.«
    Die Vermieterin schaute die Tigerkatze finster an. »Wohl eher mordsgefährlich. Er war wieder hinter den Vögeln her. Läßt du ihn bitte runter, mein Lieber? Ich kann es nicht ausstehen, wenn sein Atem nach Eichelhäher riecht.«
    Michael ließ die Katze los und reichte Mrs. Madrigal den Scheck. »Tut mir leid wegen der Verspätung. Wieder mal.«
    Sie tat seine Bemerkung mit einer Handbewegung ab und steckte den Scheck hastig in ein halb gelesenes Buch mit Geschichten von Eudora Welty. Sie fand es gräßlich, mit ihren Kindern über Geld zu reden. »Ach so«, sagte sie, »was machen wir mit Mary Anns Geburtstag?«
    Michael zuckte zusammen. »O Gott. Ist es schon soweit?«
    Mrs. Madrigal lächelte. »Nach meiner Rechnung nächsten Dienstag.«
    »Sie wird doch dreißig, oder?« Michaels Augen glitzerten diabolisch.
    »Wir sollten das wohl besser nicht betonen, mein Lieber.«
    »Erwarten Sie von mir nicht, daß ich mich gnädig zurückhalte«, sagte Michael. »Mit meinem Dreißigsten hat sie mich voriges Jahr erbarmungslos getriezt. Außerdem ist sie hier im Haus die letzte, die über die große
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