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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Autoren: Niklas Maak
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Explosionsherd der Atombombe entfernt sein, um hier einen Atomschlag zu überleben, aber es erschien ihm unwahrscheinlich, dass die Bombe direkt über diesem kleinen Vorort der Stadt gezündet würde (andererseits konnte man nie wissen, die Russen hatten wenig Erfahrung mit Atombomben, und besondere Lenkpräzision war, wie man an ihren Autos erkennen konnte, die sie neuerdings nach Deutschland importierten, nicht ihre Stärke). Sein Bunker hatte drei Atü Druckresistenz; die Firmen H. Anders KG und Friedrich Frank hatten auch Schutzräume im Programm gehabt, die höherem Druck standhielten, aber das erschien ihm unsinnig. In einem solchen Atombunker wäre man zwar strahlensicher untergebracht und dank einer sechzig Zentimeter dicken Betondecke auch vor der Hitzewelle geschützt, die nach der Explosion entstehen würde, wie der Hersteller des Bunkers, die Firma Schmitt in Kelkheim im Taunus, versprach. Andererseits würde die Druckwelle im Boden eine Art Erdbeben auslösen; bei einem Luftstoß von drei Atü beträgt dieBeschleunigung in weichem Boden 1,5 Meter pro Quadratsekunde, der Bunker würde also aus seiner Position gebracht, der Eingang verschüttet, die Lüftungsanlage abgeknickt werden, und in diesem Fall wäre die Frage der Hitzeresistenz auch nicht weiter interessant. Zwar hatte ein Herr Doktor Ehm vom Bundesbauministerium in einer Erklärung ein solches Szenario als unwahrscheinlich bezeichnet – die Bodenbewegungen seien, wenn man nicht direkt unter dem Detonationspunkt der Bombe wohne, nur minimal –, aber Bellmann war in diesem Punkt skeptisch. Man musste realistisch bleiben.
     
    Der Bunker versperrte einen ganzen Kellerraum; der Keller war nicht zu nutzen, weil dort eingeschweißte Notversorgung aus dem Jahr 1967 und eine unbenutzte, originalverpackte italienische Trockentoilette lagerten (»Latrina a secco, un assortimento per otto persone«), und weil Bellmann nicht mehr mit einem Atomkrieg rechnete, hatte erbeschlossen, den Bunker zu einer Kellerbar umzubauen.
     
    Die Wochenenden dieses Sommers hatte er damit verbracht, einen Tresen zu zimmern und eine Kiefernholzvertäfelung an den Wänden des Bunkers anzubringen, was keine leichte Aufgabe war; Täfelungen waren für Bunker nicht vorgesehen. Die Holzbretter flammte er mit einem Bunsenbrenner; er hielt die Gasflamme so dicht an das weiche, frische Holz, bis es dunkel wurde und aussah wie eine der Bars in den Western, die er manchmal im Kino anschaute. Dann montierte er zwei Saloon-Türen hinter die Atomschleuse, schraubte ein altes Wagenrad hinter den Tresen und klebte auf den Kasten der Trockentoilette ein Plakat, das seine Frau zeigte. Über ihren Kopf hatte er mit Letraset-Buchstaben das Wort »Wanted« geschrieben.
    Als die Bar fertig war, räumte er die Schallplatten in den Keller. Er besaß alles von Bill Haley, alles von Chuck Berry und Gene Vincent und fast alles von Elvis, dazu einhundertfünfzig Singles und vierundachtzig Langspielplatten von Fats Domino, Little Richard, La Vern Baker, Scotty Moore und Eddie Cochran. Während er das Holz seiner Kellerbar mit dem Bunsenbrenner flambierte, hörte er »That’ll Be theDay« von Buddy Holly oder »Teenager in Love« von Dion DiMucci – Buddy Holly war damals schon lange tot, DiMucci lebte noch, sagt Bellmann, weil er am 3. Februar 1959 nicht in das Flugzeug gestiegen war, mit dem Buddy Holly, Ritchie Valens und The Big Bopper abgestürzt waren.
    DiMucci lebte noch, aber im Sommer des Jahres 1972, als Deep Purple mit dem Album Machine Head die Hitparaden anführte und Christian Anders monatelang den Platz eins der Singlecharts mit »Es fährt ein Zug nach Nirgendwo« besetzte, interessierte sich niemand mehr für ihn. Bellmann hatte eine böse Ahnung, dass es ihm prinzipiell ähnlich ergehen könne wie DiMucci; andererseits war er Arzt und kein Rockstar, und Ärzte brauchte man immer.
     
    Er liebte Amerika. Er war zwar noch nie in Amerika gewesen, aber er hatte eine genaue Vorstellung davon, wie es dort aussehen musste – vor seinem Haus hatte er einen amerikanischen Briefkasten angebracht, auf dem »Mail« stand (er bestand nur aus einem abgeschnittenen Rohr, und es gab Postboten, die damit nichts anfangen konnten und die Briefe stattdessen umständlich zwischen die Latten des Gartentores klemmten). Sein Autoradio war so eingestellt, dass, wenn er den Motor anließ, automatisch der amerikanische Soldatensender AFN lief. Sein Haus hatte ein Flachdach und breite Fenster; es gab einen
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