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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Autoren: Niklas Maak
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Walmdachhaus mit Sprossenfenstern wohnte, schaute dem neuen Cabrio immer langenach, als sehe sie in ihm die Möglichkeit eines anderen, weniger vergitterten Lebens.
    An dem Tag also, an dem das Foto entstand, ließ Bellmann den Motor in der Garagenauffahrt länger als nötig warm laufen, schaltete das Becker-Mexico-Kassettenradio an und wieder aus, verfolgte, wie die elektrische Antenne hinten neben dem Kofferraum aus dem Blech fuhr und wieder versank, klappte das Handschuhfach auf, in dem Ingrids alte Hasselblad lag, drehte an den kugelförmigen Lüftungsdüsen, schaltete den Automatikwählhebel von D auf P, trat aufs Gas, hörte dem Achtzylindermotor zu, sah, wie die orangefarbene Nadel des Drehzahlmessers auf viertausend Umdrehungen stieg, und betrachtete sein Gesicht im Rückspiegel – ein Anblick, der ihn ernüchterte. Jahrelang hatte er eine Frisur wie Chuck Berry gehabt, eine abenteuerliche Tolle, die beim Tanzen auf und ab wippte, ein Helm eher als eine Frisur, aber seit einigen Jahren gingen ihm die Haare aus; er bekam eine Stirnglatze.
     
    Er fuhr fünf Minuten den Feldweg hinab, bis er die Telefonzelle an der Straße erreicht hatte. Es war sechs Uhr morgens, Mitternacht bei ihr. Er stand jetzt allein hier, auf einem Acker in einem gelben Kasten, hielt den modrig, nach dem kalten Atem zahlloser Raucher riechenden Hörer in der Hand und hörte die Aufzeichnung ihrer Stimme, die ihm mitteilte, dass sie nicht da sei. Sie hatte einen Anrufbeantworter, in New York hatten jetzt viele so ein Ding. Im Hintergrund hörte er das Heulen der New Yorker Sirenen auf dem Band, dann ihre metallisch klingende Stimme, Hello, this is Phyllis, you can leave a message after the beep.
    Weil es Sonntag war und er nichts zu tun hatte, verbrachte Bellmann den Tag damit, durch die Gegend zu fahren. Er sah sich die Schaufenster in der sonntäglich leergefegten Mönckebergstraße an und traf einen Freund zum Mittagessen. Auf dem Rückweg kamen ihm die Nachbarn entgegen; sie fuhren mit ihrem Opel Rekord zur Kirche, wie jeden Sonntag, sie waren gläubige Menschen: Als er ihren Wagen passierte, sah er die offenstehenden Münder der drei Kinderhinten und der Eltern am Seitenfenster, offenbar sangen sie gemeinsam ein Lied, während der Vater den Opel steuerte. Straßenbahnen ratterten vorbei, das Licht ihrer Scheinwerfer fiel auf das nasse Kopfsteinpflaster, und für einen Moment sah er die reglosen Fahrgäste, die ins Leere starrten – vom Leben zerzauste Menschen, die abends Hühnchenklein aßen und sich Geschichten aus Russland erzählten oder versuchten, diese Geschichten zu vergessen. Das Einzige, was nicht hierher passte, waren er und sein Mercedes, der weiß wie Neuschnee in der Kälte leuchtete.
    Er fuhr vorbei an Klärbecken und Gasometern und Überlandleitungsmasten bis zum Ölhafen, vorbei an Türmen aus Beton und Stahl mit Röhren und Schloten und Leitungen, dem komplizierten metallischen Herzen der Stadt; er sah die Fernsehantennen wie Gestrüpp auf den Häusern wuchern, Peitschenmasten rasten vorbei, Schienen glänzten, er drehte das Radio auf – es kam, jedenfalls hat er das so in Erinnerung, »Glad All Over« von den Dave Clark Five –, und obwohl ein scharfer Wind vom Hafen in die Straßen zog, öffnete er das Verdeck und fuhr, vorbei an den Hafenkränen, über die Brücken, auf die Schnellstraße.
     
    Er fotografierte sein Auto. Auf diesen Bildern sieht man: den Mercedes und einen Bugsierschlepper, der mit flachgelegtem Schornstein durch einen Kanal fährt. Die Sonne, die im braunen Dunst verschwindet. Die Schornsteine der Kupferhütte, einen alten Deutz-Lastwagen, das Vorkriegsmodell. Schienen, die im Gegenlicht glitzern. Kinder, die im Morast spielen. Die Stahlgerippe der Hüttenwerke. Frauen mit geblümten Gummischürzen und dicken Oberarmen. Die weiße Wäsche vor den rußigen Reihenhäusern, wie ein Protest gegen das Braune und Graue hier. Das matte Licht der Gaslaternen. Arbeiter mit scharf gezogenen Scheiteln. Einen jungen, akkurat gekleideten Mann mit einem Aktenkoffer – vielleicht sein erster Arbeitstag; er schaut aus seinem Anzug heraus wie aus einem Hotelzimmer. Eingewachsene Ruinengrundstücke. Eine Straßenbahn mit einer Werbeaufschrift – »Waren Sie diese Woche schon bei C&A?«. Einen Mann, der an der Bude einBier trinkt und einem Jungen mit der Hand über den Kopf fährt, dahinter die Hochhäuser …
     
    Dort also stand er, mit seinem Mercedes, im Stau vor den neuen Wohntürmen, die sie hinter
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