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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Autoren: Niklas Maak
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etwas nicht, ob er verstanden habe, er werde ihn drankriegen, so oder so, und dann …
    Berger versuchte, etwas zu sagen; er versuchte, die Worte »bloß temporäre Aussetzung« herauszubringen, stattdessen kam aus seinem Mund nur ein eigenartiges Gurgelgeräusch; gleichzeitig sah er im Spiegel hinter der Minibar sein Gesicht und legte erschrocken auf. Er dachte an den Kriegsveteranen William Foxton, der beim Zusammenbruch der FondsHerald USA und Herald Luxembourg seine gesamten Ersparnisse – etwa eine Million Euro – verloren hatte; er hatte sich in einem Park in Southampton erschossen. Foxton tat ihm leid; jemand hatte ihn schlecht beraten, er hätte diversifizieren müssen, das hatte er nicht getan, jetzt war alles weg, und Foxton war nicht der einzige; Thierry Magon de la Villehuchet, Kogründer des Fonds Access International Advisors, war in seinem New Yorker Büro tot aufgefunden worden,sein Fonds hatte rund eine Milliarde Euro verloren, und in Los Angeles hatte sich Karthrik Rajaram umgebracht. Die Leute verkrafteten es nicht, Geld zu verlieren, sie vergaßen, dass alles nur ein großes Spiel war, ein Roulette, sie wollten Ernst machen; die Leute waren gefährlich.
     
    Berger öffnete seinen Facebook-Account. Er sah sein eigenes Profil, die ständig wachsende Liste seiner Freunde, und dann sah er, dass jemand das Wort »Arschloch« an seine Pinnwand geschrieben hatte. Es war einer der Aktionäre, dessen Freundschaftsanfrage er, ohne nachzudenken, bejaht hatte. Er löschte den Eintrag, warf den Aktionär aus seiner Freundesliste, nachdem er das »defriend a person«-Programm studiert hatte, stellte dann fest, dass Mina es abgelehnt hatte, mit ihm befreundet zu sein, und gab wahllos Namen aus seiner Vergangenheit in das Suchfeld ein. Menschen, deren Adressen und Telefonnummern man aus gutem Grund verlegt hatte, tauchten wieder auf, rematerialisierten sich – Leute, von denen er nur zwanzig Jahre alte Aufnahmenbesaß und die ihm vor seinem Eintritt in Facebook mit weichen, jugendlichen Zügen in Erinnerung waren, traten ihm hier mit Falten, dick, älter, unansehnlich, wie das lebende Bildnis des Dorian Gray entgegen.
     
    Hinter ihm wanderten jetzt, unterlegt von Bruckner-Musik, Flüchtlingstrecks gen Westen. Er drehte sich um;Adolf Hitler schrie Schwarz-Weißes in den Raum.
    Berger saß nur in Unterhose am Computer. Weil er kalte Füße hatte, zog er seine Loafer wieder an; jetzt war er ein halbnackter Mann mit sehr teuren Halbschuhen an den Füßen; er sah aus wie einer dieser Geschäftsleute, die sie in Lateinamerika für eine halbe Stunde kidnappen und denen sie dann am Automaten nicht nur das Geld, sondern auch die Kleidung abnehmen.
    Er googelte sich durch die Börsenkurse. Die Schiffsfonds waren vollkommen im Eimer, die gehebelten Produkte verloren, die ganze Branche abgeschmiert – er selbst hatte Geld in einer Höhe verloren, dass ihm schwindelig wurde, dazu käme noch die Summe, die er in den verdammten Fonds würde einschießen müssen, um die Schiffe zu retten, die Crew, die Liegegebühren, all das kostete Geld, was sie von den Anlegern eintreiben müssten …
    Er schaute sich auf Facebook die Freunde seiner Stieftochter an; sie hatte neunhundertzweiundfünfzig Freunde. Auch Jago war darunter. Jago war sein Freund. Jago, sechzehn, der aussah wie das Faultier aus Ice Age II , der kleine Junge mit der Iltisfrisur, hatte ihm eine Freundschaftsanfrage geschickt, die er, Berger, positiv beschieden hatte, obwohl ihm Jagos Gerede von Revolution und Aufstand ordentlich auf die Nerven ging, seine endlosen Monologe über den Kapitalismus, die von seinen Lehrern als rhetorisch genial gefeiert wurden, was dazu führte, dass Jago allen Ernstes eine Karriere als Politiker anstrebte. Jago hatte etwas gepostet. Er nannte es Manifest. Berger entdeckte noch ein letztes übersehenes Fläschchen Jägermeister im Kühlschrank, trank es mit einem Ruck aus und las:
     
    Ich will nicht wissen, wie Ihr Euch fühlt. Eure Gemütlichkeit kotzt mich an. Ich will nichts wissen von den schönen Abenden vor dem Fernseher, wenn Ihr den Tatort schaut und dabei in einem Einrichtungsmagazin blättert. Ich erzähle Euch von etwas anderem: von dem Strahlen einer Revolte, dem Leuchten einer großen Liebe. Die Chinesen, deren Peinigern Ihr Städte und Autos verkauft, werden sich erheben gegen denMittelstand, den Ihr dort gezüchtet habt. Dies sind die Orte, an denen der Aufruhr stattfindet, nicht Eure Welt, sie werden es sein, nicht
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