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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Autoren: Niklas Maak
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oder die Realität ihm schien, als sehe er hier, endlich, die Frau, die ihn alle Solveigs der Welt vergessen lassen würde …
    Er berührte den Bildschirm mit der Hand, er klickte das Foto an, um es zu vergrößern, und in diesem Moment gab der Laptop ein pfeifendes Geräusch von sich, eine Sanduhr erschien zwischen Innas eisblauen Augen, wie ein böses Menetekel fiel das Wort »Error« auf ihren Mund, dann stürzte der Computer ab.
     
    Er schlug auf die Tastatur, er drückte »Neustart«, das Bild baute sich quälend langsam wieder auf. Er ging ungeduldig in dem lächerlich kleinen Zimmer auf und ab, öffnete das Fenster, ein feuchtkalter Wind fegte in den Raum. Draußen trieb ein feiner Regen südwärts, und die Laterne warf ihr Licht auf das von langen Schneewintern geduckte Dach eines alten gelben Hauses und auf die Jalousie der Konditorei gegenüber. Ein Werbeschild für Illy-Kaffee leuchtete in die Nacht. Das Regenwasser gurgelte durch die Plastikfallrohre und sammelte sich in dem silbernen Aschenbecher, der neben der Tür des Cafés stand. Irgendwo rollte ein Auto über das Kopfsteinpflaster, es klang wie ein fernes Gewitter.
    Die Frau war weg. Er stolperte zum Laptop, riss dabei das Stromkabel aus der Verteilerdose und mit ihm eine halbvolle Kaffeetasse in die Tiefe, der Bildschirm wurde schwarz, das Summen des Festplattenventilators erstarb; dann herrschte Nacht.
     
    Später gab Berger verschiedene Stichwörter ein, »Partnervermittlung«, »Inna«, »Interfriendship«, »East Contact«, aber er fand Inna nicht mehr. Sie war so plötzlich in den Tiefen des Netzes verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Schließlich gab er es auf.
    Es war vier Uhr morgens, der Regen hatte aufgehört, und über den roten Dächern deutete sich ein beginnendes Tageslicht an. Er legte sich angezogen auf das Bett und fiel in einen tiefen, ratlosen Schlaf.
     
    Als er ein paar Stunden späteraufwachte, zuckten die Börsenkurse über sein iPhone, DAX, AAPL, GOOG, YHOO, DOW JONES – ihm war schlecht. Es war sieben Uhr, er beschloss, in ein Café am Fluss zu fahren.
    Im Wagen drehte er das Radio laut und trat auf das Gaspedal, er schaute auf das Display seines iPhone und übersah die Verkehrsinsel – es gab also einen Knall, und ein Knirschen, der Mercedes entwurzelte ein blaues Schild und entblätterte ein Gebüsch, hob ab und setzte schräg auf einem Parkpoller auf: verbeultes Blech, gesplittertes Glas, Rauch aus dem Motorblock. Berger hatte eine Platzwunde an der Stirn. Jemand rief einen Krankenwagen. Ein Polizist, noch müde, sperrte den Unfallort ab.
     
    Gegen Mittag kam ein Abschleppwagen und brachte den Mercedes in eine Werkstatt, wo man einen wirtschaftlichen Totalschaden feststellte. Ein paar Wochen später hatte die Versicherung den Fall abgewickelt. Der Wagen, mit dem Bellmann ans Meer und Comeneno nach Italien flüchteten, Radonovicz zu Thomyks Beerdigung fuhr, Berkenkamp in den Osten und auf seine Hochzeit, Marie Bergsson quer durch Frankreich – dieses Auto wurde ausgeweidet wie ein erlegtes Wild: Die Chromteile und der Tacho, die Rückleuchten und die Rückbank gingen in den Oldtimerhandel, die demolierte, von Rädern, Verdeck undSitzen entkleidete Karosserie in die Schrottpresse, Felgen, Lenkrad, Sitze, Armaturenbrett, hintere Stoßstange und die Außenspiegel landeten in einem Container bei anderen Altautoteilen.
     
    Aber das Auto war doch ein Klassiker?
    »Alles war viel zu heruntergekommen. So einen Motor braucht in Europa keiner mehr. Die Sitze kannst du vergessen. Und von diesen Lenkrädern gibt es zehntausend besser erhaltene.«
     
    Eine Woche später wurde der Container nach Marokko verschifft.

Epilog
Die Teile
    Yazid saß in seiner Werkstatt und wartete auf Kunden. Er hatte eine neue Lieferung aus Deutschland bekommen; einen Motorblock, Felgen, Sitze, Außenspiegel. Fast jedes Teil eines alten Mercedes passte an ein beliebiges anderes Modell, man konnte die Felgen eines Luxus-Cabrios ohne Probleme auf ein einfaches Dieseltaxi bauen; auf solche Reparaturen war er spezialisiert. Draußen fuhren Lastwagen in Richtung Essaouira. Ein Spatz pickte an einer Dattel herum; die faltige, dicke Haut war an mehreren Stellen durchstoßen, die klebrige Masse quoll wie Eingeweide aus der Frucht.
    Die Sonne sank, und der Tag verdampfte in der Abendhitze; auf der anderen Straßenseite standen dürr und schwarz, als hätte sie jemand hinterrücks angezündet, die Palmen im verblassenden Licht. Die Temperaturen lagen noch
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