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Ewig

Ewig

Titel: Ewig
Autoren: Gerd Schilddorfer , David G. L. Weiss
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offenen Kamin im Wohnturm der Burgruine Grub und schaute in die Flammen, die den großen Raum nur teilweise wärmen konnten. Er schien die Kälte nicht zu spüren, lebte in seiner eigenen Welt und ließ die Reise nach China, die er gemeinsam mit seiner Frau Clara vor – er dachte nach – ja, vor vier Jahren gemacht hatte, vor seinem geistigen Auge Revue passieren.
    »Das wollen Sie nicht wissen, glauben Sie mir«, hatte der blasse Archäologe ihnen geantwortet, als Clara beim Besuch des Grabmals von Kaiser Qin Shihuangdi in Xi’an eine Bemerkung gemacht hatte, die den jungen Chinesen völlig unvorbereitet getroffen hatte. Der erste Kaiser von China hatte eine eigenwillige Persönlichkeit gehabt und sehr grausame Vorstellungen davon, wer mit ihm begraben sein sollte.
    Von den massigen Erdwällen und den grimmigen Mienen der hunderten Terrakottasoldaten alleine in der ersten überdachten Grube eingeschüchtert und von den massiven Sicherheitsvorkehrungen irritiert, hatte sich Clara die lächerliche Bemerkung nicht verkneifen können: »Das sieht ja gerade so aus, als wollte man uns hier einsperren«, hatte sie gemeint, sich umgesehen und dann den Archäologen mit ihrem Eindruck konfrontiert. »Man bekommt hier wirklich das Gefühl, dass man ungebetene Gäste nicht fern-, sondern den Kaiser und seine Tonarmee im Grab festhalten möchte. Als hätte man Angst, dass Qin Shihuangdi aus seinem Grab klettern und entkommen könnte. Habe ich Recht?«
    Sina hatte sich schon damals sehr darüber gewundert, wie der Archäologe bei Claras, seiner Meinung nach kindischem, Einwand erschreckt aufgeblickt hatte, und sofort der »Zwangsbeglücker«, wie Clara ihn nannte, der von der Volksrepublik beigestellte offizielle Reisebegleiter, das Wort an sich gerissen hatte. Der schmale Chinese, extra mit ihnen aus Beijing angereist, hatte wie ertappt gestottert: »Das wollen Sie nie erfahren.«
    Weitere Nachfragen waren sinnlos, die Chinesen waren alarmiert, gar nicht mehr kooperativ, sehr schweigsam. Damit fand der Besuch der sensationellen archäologischen Stätte ein jähes Ende. Wieder einmal hatten sie Claras vorwitzige Bemerkungen um einen Kulturgenuss gebracht. Schnell und endgültig waren sie von den Aufsehern vom Gelände der Ausgrabung komplimentiert worden. Man brachte sie zurück nach Beijing, und als sie endlich das Land verließen und im Flugzeug saßen, konnte sich Sina des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Gastgeber irgendwie erleichtert schienen.
    Sina holte ein paar Holzscheite aus einem kleinen Nebenraum und fütterte damit das niederbrennende Feuer im Kamin. Funken stoben, es zischte und krachte und roch plötzlich nach frischem Holz und verbranntem Harz. Der kleine tibetanische Hirtenhund, der sich vor dem Kamin zusammengerollt hatte, rührte sich nicht. Er hatte sich an die Geräusche längst gewöhnt und schlief weiter, als ob nichts gewesen sei. Der heiße Tee in der großen Tasse dampfte. Sina kostete schlürfend, nickte anerkennend und seine Gedanken wanderten wieder zu Clara zurück, wie so oft in den letzten drei Jahren. Clara. Er vermisste sie immer mehr, je tiefer er in die Einsamkeit rutschte. Er redete mit ihr, aber sie antwortete nicht mehr so oft. In den ersten Jahren war es eine lebhafte Unterhaltung gewesen, aber jetzt schwieg sie immer öfter.
    Die ganze Welt schwieg. Es störte ihn nicht. Er hatte die Einsamkeit gewählt und sie war seine Freundin geworden. Was zählte, trug er in sich. Erinnerungen an eine Zeit vor seinem emotionalen Tod.
    Der kleine Hund hob den Kopf und lauschte. Sina strich sich über das schwarze Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war und am Hinterkopf in einem langen Zopf endete. Er war gleich alt wie Paul Wagner, wirkte aber durch seinen struppigen, grau werdenden Bart älter. Die Falten um seinen Mund verrieten seine Enttäuschung, und die tiefen senkrechten Kerben auf seiner Stirn zwischen den Augenbrauen seine Skepsis. Seine drahtige, muskulöse, fast asketische Gestalt erzählte vom Leben auf dem Land und den ständigen Instandsetzungsarbeiten am Gemäuer seiner baufälligen Ruine ohne Zentralheizung. Fließendes Wasser gab es erst seit einigen Monaten. Sina hatte das Interesse und den Genuss an körperlichen Dingen verloren. Er aß, damit er nicht verhungerte, und schlief, weil man eben schlafen musste. Wenn er nicht Zement mischte und Steine zu Mauern schichtete, verbrachte er die meiste Zeit lesend und arbeitend in seiner Bibliothek, die jedem Schloss oder jeder
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