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Ethik: Grundwissen Philosophie

Ethik: Grundwissen Philosophie

Titel: Ethik: Grundwissen Philosophie
Autoren: Detlef Horster
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der Freiheit, sondern es ist ihre wesentliche Vollzugsbedingung selbst.« (Volkmann-Schluck 1981, 179)
Die konkrete Entscheidung in einer Dilemmasituation
    Wie kann nun ein einzelner Mensch in einer konkreten Situation eine moralische Entscheidung treffen? Kant hat in seiner Schrift
Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen
herausgestellt, dass Lügen ein Unrecht sei, »das der Menschheit überhaupt zugefügt wird« (A 305), denn die Wahrheit zu sagen sei die »formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen« (A 304). Und Arno Baruzzi interpretiert: »In jeder Lüge liegt dieser nihilistische Kern, daß ich auch im kleinsten Tun einer Lüge immer gegen andere, letztlich das Ganze des Menschlichen, gegen die Menschheit handle.« (Baruzzi 1996, 80) Darum ist Kant mit guten Gründen und nicht – wie ihm vielfach unterstellt wurde – aufgrund seniler Verwirrung der Auffassung, dass »die Lüge gegen einen Mörder […] ein Verbrechen sein würde« (A 302). Eine Lüge ist mit dem kategorischen Imperativ unvereinbar und gefährdet den Sozialvertrag und damit die Grundlage der menschlichen Gemeinschaft.
    [23] In Kants Schrift geht es um folgenden Fall: Ein Mann versteckt seinen zu Unrecht verfolgten Freund. Die Häscher an der Tür fragen ihn, ob er seinen Freund versteckt habe. Nun stellt sich für ihn die Frage, ob er die Wahrheit sagen oder – um seinen Freund zu schützen – lügen solle. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Entscheidung eindeutig ist, denn jeder unschuldig Verfolgte muss geschützt werden. So ist die Argumentation des französischen Philosophen Benjamin Constant, mit dem Kant sich auseinandersetzte. Constant vertritt einen utilitaristischen Standpunkt, wenn er sagt, dass es richtig sei, den Freund durch eine Lüge zu schützen. Dem setzt Kant sein deontologisches und zugleich sozialphilosophisches Argument entgegen, dass man mit dem Bruch eines Versprechens das Vertrauen in das Funktionieren von wert- und wirkungsvollen Sozialtechniken erschüttert und damit den zwischenmenschlichen Kontakt belastet. Heute würde man von einer Dilemmasituation sprechen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass man einer moralischen Pflicht nur dadurch nachkommen kann, dass man einer anderen nicht nachkommt oder sie verletzt. Oder wie Susanne Boshammer eine solche Situation knapp und prägnant kennzeichnet: »1. Ich soll A tun; und: 2. Ich soll B tun; und: 3. Ich kann nicht A und B tun.« (Boshammer 2008a, 25) In dem Fall, den Kant mit Constant diskutiert, steht die Fürsorgepflicht der Pflicht, die Wahrheit zu sagen, gegenüber.
    Nicht nur Kant, sondern auch andere Philosophen, wie Thomas von Aquin und John Stuart Mill, aber auch Gegenwartsphilosophen wie Richard Mervyn Hare sind der Auffassung, dass es moralische Dilemmata gar nicht geben kann. Sie argumentieren, dass dann, wenn man A tun soll und A nicht tun kann, man auch gar nicht verpflichtet ist, A zu tun, weil es einem beispielsweise nicht zugemutet werden kann. (Vgl. Boshammer 2008a, 44) Eine Dilemmasituation könne darum nur in einer »widersprüchlichen oder absurden Moraltheorie Bestand haben« (Boshammer 2008a, 45). Meist sind diejenigen, die die Existenz von Dilemmasituationen verneinen, [24] Vertreter einer monistischen Moralphilosophie wie der kantischen. (Vgl. Boshammer 2008a, 74) Doch wollen sie nicht sehen, dass das reale Leben nicht so widerspruchsfrei sein kann, wie es die »theorieinterne Konsistenz« fordert. (Boshammer 2008a, 85) Darum müssen wir mit William David Ross die theoretische Argumentation von der realen Lebenssituation unterscheiden. Wir werden bei der Darstellung der pluralistischen Moralphilosophie von Ross noch sehen, wie wir mit solchen Dilemmasituationen umgehen können.
Die Motivation, einer moralischen Regel zu folgen
    Seit Kants Differenzierung von »principium executionis« (Prinzip der Ausführung) und »principium diiudicationis« (Prinzip der Beurteilung) ist klar, dass zwischen der Kenntnis von moralischen Regeln und der Motivation, nach diesen Regeln zu handeln, unterschieden werden muss. In seiner Vorlesung über Ethik heißt es:
    »Wir haben hier zuerst auf zwei Stück zu sehen: auf das Principium der Dijudikation der Verbindlichkeit und auf das Principium der Exekution oder Leistung der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das Principium der Dijudikation und Triebfeder der
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