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Es klopft

Es klopft

Titel: Es klopft
Autoren: Franz Hohler
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überhaupt gewesen war vorhin, vielleicht vom Handy aus, das dann unterbrochen wurde? Wenn, dann würde er es sicher nochmals probieren. Sie fürchtete auch immer den Anruf mit der Nachricht, ihr Vater oder ihre Mutter sei gestorben. Nach Fällanden mochte sie so spät nicht mehr anrufen.

    Ihre größte Sorge, das musste sich Julia eingestehen, galt Manuel. Sein Tinnitus besserte sich nicht, im Gegenteil, nach dem, was er ihr erzählte, intensivierten sich die Geräusche, und es war klar, dass ihm das zu schaffen machte.
    Aber sie hatte immer mehr das Gefühl, es gebe noch etwas, das ihn belaste und über das er nicht sprechen wollte. Ob er ihr einen Krebs verheimlichte?
    Sie dachte daran, bei wem überall Krebs aufgetaucht war in letzter Zeit. Walter, einer ihrer Deutschlehrer, hatte sich frühzeitig pensionieren lassen, damit er endlich mehr Zeit zum Lesen hatte, und hatte drei Wochen nach seinem Abschiedsfest den Bescheid erhalten, er habe Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium, mit Metastasen im ganzen Körper, und kämpfte seither um sein Leben, Dorothea, eine Sportlehrerin, hatte diesen Winter erfahren, dass sie Leukämie hatte, und war sechs Wochen später tot, oder der junge Katechet mit seinem Hirntumor - ob ein Tinnitus nicht auch ein Zeichen für einen Hirntumor sein konnte? Aber Manuel hatte ihr ja versichert, er sei bei Toni Mannhart in Kontrolle, der hätte so etwas bestimmt gemerkt, dafür war er ja Spezialist.
    Oder hatte er irgendetwas Unrechtes getan? Es kam ihr eine Bemerkung in den Sinn, die er einmal gemacht hatte, als bei einem Praxisessen die Rede auf das Zuger Attentat kam, bei dem ein Frustrierter ins Parlamentsgebäude eindrang und in wenigen Minuten 14 Menschen erschoss. Sein Freund Zihlmann hatte gefragt, ob sie sich das vorstellen könnten, dass man an einem schönen Morgen ein Gewehr in die Hand nehme und über ein Dutzend Menschen abknalle, da hatte Manuel trocken und sehr bestimmt gesagt, ja, das könne er
sich vorstellen. Und ins verblüffte Schweigen hatte er dann den Satz nachgeschoben, im Prinzip sei jeder Mensch fähig, etwas völlig Verrücktes zu tun, wenn die Umstände so seien, dass sein moralisches Bremssystem versage. Auch du und ich, hatte er dann, zu Zihlmann gewandt, hinzugefügt.
    Manuel ein Verbrecher? Der, unabsichtlich vielleicht, in einer schicksalshaften Minute etwas nicht wieder Gutzumachendes angerichtet hatte?
    Julia konnte es sich nicht denken, aber plötzlich schien es ihr wieder, sie kenne ihn überhaupt nicht, und der Ausdruck »mein Mann« sei eine Beschwörungsformel, derer sich die Gesellschaft bediene, um die Fremdheit zwischen zwei Menschen zu bannen.
    Und plötzlich hatte sie große Sehnsucht, ihn hier zu haben, gerade jetzt, um ihm endlich näherzukommen.
    Sie schaltete ihr Handy ein, und sofort kündigte ein heller Dreiklang das Eintreffen eines SMS an. »komme heute nacht nach p.sina, m« stand da.
    Was? Heute Nacht? Wieso? Morgen war doch Donnerstag, und er musste in die Praxis.
    Julia spürte ihr Herz klopfen.
    Sie freute sich, sie freute und fürchtete sich unbändig.
    Sie ging in die Küche, nahm das Puschlaver Ringbrot aus dem Kasten, das er so gern hatte, holte etwas Bündnerfleisch und einen Engadiner Käse aus dem Kühlschrank und zog aus dem kleinen Weingestell neben dem Cheminéeofen eine Flasche Veltliner. Dann legte sie neue Holzscheite auf die Glut, die bald wieder aufflackerte.
    Es war halb zwölf. »heute nacht«, das konnte auch heißen, um eins oder zwei, je nachdem, wann er losgefahren war.

    Julia legte sich auf das Sofa und schloss einen Moment die Augen.
    Als sie erwachte, war es drei Uhr.
    Manuel war noch nicht da.
    Ihre Angst wuchs.

25
    D er nächtliche Felssturz am Julier hatte mindestens drei Autos verschüttet.
    Die ersten zwei hatten keine Chance, das dritte, auf das nur noch ein einzelner Brocken stürzte, war dasjenige Manuels. Die Rettungsdienste hatten Trennscheiben und einen Kran gebraucht, um ihn und seine Mitfahrerin aus dem Wagen zu befreien, dessen eingedrückte Kühlerhaube sie beide eingeklemmt hatte.
    Die Mitfahrerin hatte Glück gehabt. Ihr zertrümmertes Bein konnte in einer sechsstündigen Operation im Churer Kantonsspital vor der Amputation gerettet werden, und nach drei Tagen konnte sie mit ihren Krücken schon wieder ein paar Schritte machen.
    Sie war eine hünenhafte Amerika-Schweizerin, die, wie sie sagte, per Autostopp ins Engadin wollte. Jeden Tag erkundigte sie sich nach dem Zustand des Fahrers, und
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