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Es klopft

Es klopft

Titel: Es klopft
Autoren: Franz Hohler
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ist?«
    »Tatsächlich«, sagte er, »es ist … es ist irgendwie eigenartig, dass wir eine ganze Generation vorgerückt sind.«
    Heute hatte ihr Sohn zum ersten Mal seine neue Freundin nach Hause gebracht, von der er ihnen schon eine Weile vorgeschwärmt hatte.
    »Und«, fragte sie, »was hab ich dir geschrieben?«

    Lächelnd schaute sie auf die Briefe mit ihrer Schrift und den Briefmarken mit dem spanischen König.
    »Das wollte ich gerade … das möchte ich lieber alleine lesen«, sagte er.
    Sie legte ihm die Hand wieder auf die Schulter.
    »Hoffentlich kannst du dann noch schlafen«, sagte sie.
    Er griff nach ihrer Hand.
    »Hast du denn auch noch die Briefe von mir?« fragte er.
    »Selbstverständlich«, sagte sie, »aber vielleicht schluckst du doch besser deine Pille. Gute Nacht, Lieber.« Sie beugte sich über ihn und küsste seinen Nacken.
    Er lehnte sich zurück und hielt ihren Kopf mit beiden Händen.
    »Gute Nacht, Julia«, sagte er.
    Als sie sein Zimmer verlassen hatte, fühlte er sich so allein, wie als Kind, wenn seine Mutter die Tür hinter sich zugezogen hatte und er im Bett die Nacht erwartete.
    Dann schluckte er die ganze Tablette und trank das Glas Wasser leer.
    Es waren nicht die Briefe, die er gesucht hatte.
    Es war etwas anderes. Es war das einzige Überbleibsel einer Geschichte, die ihm plötzlich wieder so lebhaft vor Augen stand, als sei sie gestern geschehen.

2
    A m 5. Mai 1983 betrat Manuel Ritter auf dem Bahnhof Basel ein Erstklassabteil des Zuges nach Zürich. Sobald er zwei freie Sitze sah, stellte er sein Köfferchen auf den einen, zog seinen Regenmantel aus, hängte ihn an den Haken darüber und setzte sich dann, etwas keuchend. Er hatte sich verspätet, aber beim Betreten der Bahnhofshalle war ihm auf der großen Abfahrtstafel aufgefallen, dass der Zug, der eigentlich schon hätte weg sein müssen, doch noch nicht abgefahren war, und mit einem Laufschritt war er durch die Unterführung auf den Perron geeilt und eingestiegen.
    Als sich der Wagen nun in Bewegung setzte, klopfte es von draußen an sein Fenster, und eine Frau blickte ihn an, eindringlich, fast hilfesuchend, machte noch ein paar Schritte in der Fahrtrichtung, dann war sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.
    Das ältere Paar auf der andern Seite des Mittelgangs schaute leicht verwundert herüber, Manuel zuckte lächelnd die Achseln und schüttelte den Kopf dazu.
    Dann lehnte er sich zurück, und während sich der Zug über verschiedene Weichen schob, als müsse er sich seinen Weg aus der Stadt suchen, streckte ihm von einer Häuserwand ein Cowboy seine durchlöcherten Schuhe entgegen, mit denen er meilenweit für eine Zigarette gegangen war.
    Schon wurde die Minibar hereingezogen, und ein fröhlicher Südländer rief »Café, Tee, Mineral!« durch den Wagen.
Manuel konnte nicht widerstehen. Obwohl er heute sein Maß an Koffein schon konsumiert hatte, ließ er sich einen Kaffee einschenken. Er bereute es schon nach dem ersten Schluck, ließ eine Weile die ganze Hässlichkeit der Autobahnverschlingungen, Schallschutzwände und Bürohochhäuser an sich vorbeiziehen, öffnete dann sein Köfferchen und holte eine Mappe mit Unterlagen heraus. Er war Hals-, Nasen-, Ohrenarzt, hatte seit drei Jahren eine eigene Praxis und kam von einem Symposium über Tinnitus. Zwei englische Ärzte hatten am Vormittag über ihre Arbeit mit Elektrostimulation berichtet, und am Nachmittag waren neue Ergebnisse medikamentöser Therapien vorgestellt und diskutiert worden. Auf beiden Gebieten hatte er wenig Ermutigendes gehört. Er schaute noch einmal die Tabellen mit den Prozentzahlen an und nahm die Stimme des Kondukteurs erst wahr, als sich dieser zu ihm herunterbeugte. Während er seine entwertete Fahrkarte zurückerhielt, wurde an ihn offensichtlich noch eine Frage gerichtet, und auf sein »Bitte?« wurde die Frage wiederholt, nämlich ob er sich noch nie den Kauf eines Halbtaxabonnements überlegt habe. Manuel murmelte, er fahre fast nie Zug, worauf ihm der Kondukteur, ein junger Blonder mit einem Ringlein im linken Ohr, entgegnete, es genügten schon drei solcher Fahrten innerhalb eines Jahres, damit es sich rentiere, und er gebe ihm hier einen Prospekt.
    Manuel nickte und las dann statt der Tabelle den Prospekt, der ihm nebst schönsten Landschaften auch alle möglichen Sonderaktionen und Städterabatte verhieß, auf die einzugehen er keinen Anlass sah. Er fuhr mit seiner Frau und den Kindern regelmäßig in eine Ferienwohnung im Engadin,
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